Im parlamentarischen Alltag ereignet sich der Vorgang nicht allzu häufig: Kurz vor der Sommerpause sah sich der Bundestag genötigt, die vom Kabinett abgesegnete Novellierung des Arzneimittelgesetzes von der Tagesordnung zu nehmen. Viele Abgeordnete fühlten sich nämlich von einer darin aufgeführten Neuregelung überfahren. Danach soll es künftig erlaubt sein, auch Menschen in die medizinische Forschung einzubeziehen, wenn sie zum Zeitpunkt der Durchführung selbst nicht mehr einwilligungsfähig sind. Sie werden also zu Versuchsobjekten der Forschung – und haben überdies von den Ergebnissen keinen unmittelbaren Nutzen mehr. Eine entsprechende Patientenverfügung würde dazu ausreichen. Begründet wird das Gesetz offiziell mit einer Richtlinie der Europäischen Union, die bis 2018 nationales Recht werden soll.
Betroffen könnten etwa Demenzkranke sein, aber auch Koma-Patienten oder Behinderte, deren Einschränkung so schwerwiegend ist, dass sie die Risiken einer Studienteilnahme gar nicht überblicken können. Bislang war dies nur möglich, wenn sie von den erprobten Medikamenten oder Therapien auch profitieren können. Gruppenspezifische, sogenannte „fremdnützige“ Forschung, deren Ergebnisse erst zukünftig anderen Patienten zugutekommen könnten, ist nach bisheriger Rechtslage ausgeschlossen.
Unmut bei Abgeordneten
Dabei soll es auch bleiben, ginge es nach dem Willen der ehemaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), die als Abgeordnete und Vorsitzende der Lebenshilfe heute die Interessen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung vertritt. Zusammen mit Parlamentariern aller im Bundestag vertretenen Fraktionen macht sie gegen das Gesetz mobil. Anfang September reichten die Abgeordneten einen Gruppenantrag ein, der – auch das ist ungewöhnlich – wahrscheinlich erst verhandelt werden kann, wenn der voraussichtlich Anfang November wieder auf die Tagesordnung gesetzte Entwurf schon im Gesundheitsausschuss liegt. Für die anstehende Abstimmung ist der Fraktionszwang aufgehoben, immerhin das wurde erreicht.
Der Unmut über das Verfahren, kurz vor der Sommerpause noch schnell ein angeblich nur „technisches“ Gesetz über die Bühne zu bringen, war allen engagierten Abgeordneten anzumerken. Insbesondere die Behauptung, die EU verlange von Deutschland entsprechende Veränderungen, bringt die Abgeordneten auf. In langen Verhandlungen, so Kordula Schulz-Asche von den Grünen, habe die Bundesregierung durchgesetzt, das höhere Schutzniveau von besonders verletzlichen Patientengruppen in Deutschland beizubehalten. Das hat der Bundestag 2013 fraktionsübergreifend noch einmal einstimmig bestätigt. Unverständlich ist für Uwe Schummer (CDU) auch die Tatsache, dass der Referentenentwurf aus dem Haus des Gesundheitsministers Gröhe und der, der dem Bundestag zur Abstimmung vorliegt, in wesentlichen Punkten voneinander abweichen. Böse Zungen behaupten, die Ministerialebene habe sich noch einmal „kreativ“ eingebracht.
„Je schwächer der Mensch, desto stärker die Schutzfunktion des Staates“, so lautete die Forderung in der Sachverständigenanhörung. Selbst wenn ein Betroffener zu dem Zeitpunkt, zu der er die Patientenverfügung niederlegt, noch fähig ist, die Folgen seiner Entscheidung zu beurteilen, kann er nicht wissen, was in zehn oder zwanzig Jahren beforscht wird, welche Risiken oder Nachteile für ihn damit verbunden sind. Daran ändert es auch nichts, wenn er vorher ärztlich beraten wurde, wie es ein Änderungsantrag des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach vorsieht. Die Linke Kathrin Vogler sieht in diesem Vorschlag sogar eine Verschlimmerung. Sie befürchtet, dass die forschenden Arzneimittelhersteller die Arztpraxen überschwemmen, um an entsprechende Zustimmungen zu kommen. Auch die Ärzte können das Risiko künftiger Studien nicht bewerten.
Doch soll und darf man Menschen, die anderen Menschen mit ähnlichen Krankheitserscheinungen helfen wollen, indem sie sich künftig als Probanden zur Verfügung stellen, von einem solchen, eigentlich altruistischen Akt überhaupt abhalten? Ist die Demenzforschung, die in diesem Fall immer wieder genannt wird und die Gesundheitsminister Gröhe wohl unterstützen will, nicht ein enorm wichtiges Forschungsfeld für uns alle?
Diese richtigen Fragen, darüber waren sich auch die von den Abgeordneten befragten Sachverständigen einig, würden im Sinne fremdnütziger Forschung nur dann zu bejahen sein, wenn zu belegen wäre, dass ein einziges, unmittelbar die entsprechende Krankheit betreffendes Forschungsprojekt deshalb nicht durchgeführt werden kann, weil Demenzkranke oder Behinderte ausgeschlossen bleiben. Das ist nach übereinstimmender Aussage nicht der Fall. Selbst die Koordinierungsstelle für klinische Studien (KKS-Netzwerk), die den Regierungsentwurf forciert, hat das inzwischen eingeräumt.
In aller Regel gehe es, so der Frankfurter Geriatrie-Experte Johannes Pantel, um Studien, die keinen unmittelbaren therapeutischen Nutzen für die Patienten haben, etwa in der Pharmakokinetik, die allgemeine Erkenntnisse über die Dosierung von Arzneimitteln erforscht. Wirksamkeitsstudien, die darauf ausgerichtet sind, die Krankheit beeinflussende Arzneimittel zu erproben, könnten dagegen auch mit Patienten im frühen Demenzstadium durchgeführt werden, die noch voll einwilligungsfähig sind. Der in der Grundlagenforschung beheimatete Zellforscher Martin Hildebrandt macht außerdem auf die vielen heterogenen Interessen aufmerksam, die für einen Probanden überhaupt nicht überschaubar sind: die Pharmaindustrie, die Studienärzte, die nach einer Veröffentlichung lechzen, die Krankenhäuser, die für die Durchführung einer Studie bezahlt werden. Und im Unterschied etwa zu einer Organspende sei der Gesundheitsgewinn für andere nicht absehbar.
Für den Fall, dass das vorgelegte Gesetz verabschiedet würde, entwirft der Abgeordnete Uwe Schummer ein drastisches Szenario: „Stellen Sie sich einen demenzkranken Menschen vor“, so seine Bedenken, „der sich nicht mehr wehren kann und, um ihn still zu halten, während einer für die Studie notwendigen MRT-Untersuchung in der Röhre fixiert wird. Fixierung aber ist eine Art der Folter.“ Wie seine Kollegen befürchtet er einen „unausweichlichen Dammbruch“ und eine irreversible Absenkung des Schutzniveaus.
Riskante Patientenverfügung
„Wir wollen keine Forschung ausschließen, die unmittelbar dem Menschen dient“, bekräftigt Ulla Schmidt ihre Position. Das aber ist schon im Rahmen der gegenwärtigen Regelung möglich, allerdings mit der von der EU unabdinglich geforderten Ausweitung, dass die Prüfungsteilnehmer unter ihrem Zustand nur „leiden“ und nicht, wie im bisherigen deutschen Recht, sich in einem „lebensbedrohlichen“ oder „sehr geschwächten Zustand“ befinden. Deshalb ist auch von der Abgeordnetengruppe, die eigentlich nichts verändert sehen will, ein Änderungsantrag notwendig.
Wie schon in der Debatte um die Sterbehilfe zeigt auch dieser Fall die vielgestaltige Problematik von Patientenverfügungen. In seiner jüngsten Entscheidung hat der Bundesgerichtshof strenge Anforderungen an solche Vorausverfügungen gestellt. Danach reicht es für eine Behandlungsentscheidung nicht aus, nur den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen zu erklären, die Anweisung muss inhaltlich konkret gefüllt sein. Verhandelt wurde der Fall einer 1941 geborenen Frau, die nach einem Hirnschlag mit einer Magensonde ernährt wurde und nicht mehr sprechen konnte. Sie hatte einer ihrer drei Töchter die Vollmacht erteilt, lebensverlängernde Maßnahmen abbrechen zu lassen. Die beiden anderen Schwestern wollten dem nicht entsprechen. Nach diesem Urteil dürften viele Patiententestamente inzwischen unwirksam sein.
Unter dieser Maßgabe könnten aber auch Patientenverfügungen, die die Einwilligung zu fremdnütziger Forschung beinhalten, vor den Gerichten landen, weil die vom BGH geforderte Konkretisierung vorauseilend überhaupt nicht möglich ist.
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