An der Sex-Front

Pädophilie-Debatte Ein Blick in die Geschichte der Grünen zeigt, niemand hätte damals abweichende Positionen ausgeschlossen. Die Partei verstand sich als normabweichend
Ausgabe 39/2013
An der Sex-Front

Foto: Shauni/ Istockphoto

Sex sells. Sex kills. Nun haben es auch die Grünen erlebt. Die Asche, die sie sich in der Nachwahlwoche aufs Haupt streuen müssen, besteht nicht nur aus den Überresten einer Steuerreform, sondern auch aus dem Fallout ihrer turbulenten Anfangsgeschichte. Jürgen Trittin hat im Jahr 1981 für ein Programm verantwortlich gezeichnet, das die Straffreiheit von „gewaltfreiem Sex“ mit Kindern fordert. In den klimatischen Nachwehen der sexuellen Revolution galt das als politische Valuta. Ein Vierteljahrhundert später war es der letzte Zug am Strick, mit dem die Partei und ihre Galionsfigur stranguliert wurde. Der Parteivorstand ist geschlossen zurückgetreten; Jürgen Trittin selbst nun auch als Fraktionsvorsitzender.

Die Kampagne gegen ihn war politisch durchschaubar und heuchlerisch. Findet sich am grünen Karren keine Stelle, um eine Kerbe zu schlagen, muss die Parteigeschichte herhalten. Ausgerechnet oder vielleicht gerade zu einem Zeitpunkt, wo Angela Merkel die größte Affäre der Nachkriegszeit – die umfassende Bespitzelung der Bundesbürger durch fremde Geheimdienste – mit einem Achselzucken erledigt hat.

Heuchlerisch war und ist die Kampagne, weil sich dabei Politiker in die Brust werfen, die es vor nicht allzu langer Zeit noch selbstverständlich fanden, dass Frauen von ihren Männern zur ehelichen Pflicht gezwungen wurden, und die momentan auch nicht offensiv darum bemüht sind, den Opfern sexueller Gewalt mentale und finanzielle Hilfe zukommen zu lassen. Ihn ekelte die „Instrumentalisierung dieses Themas und jede damit verbundene Selbstgerechtigkeit schlicht an“, brachte Pater Mertes, der vor drei Jahren viel zur Aufklärung der Vorgänge am Canisius-Kolleg geleistet hat, zum Ausdruck.

Die Grünen hatten den Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter mit der Aufarbeitung der Parteigeschichte betraut. Warum er seine Ergebnisse allerdings ausgerechnet auf einer ganzen Seite in der FAZ publizieren musste und den so schrecklich empörten Christdemokraten derart Munition in die Hände spielte, muss allerdings gefragt werden.

Worum geht es?

Was da im Kern enthüllt wurde, war jedem bekannt, der die Grünen gut kennt. Die alten Parteiprogramme sind zugänglich, und ihre Anfangsjahre liegen nicht so weit zurück, dass sich keine Zeugen mehr fänden. Warum also entfaltet dieser „Missbrauch des Missbrauchs“, um eine durch Katharina Rutschky bekannt gewordene, ursprünglich auf Feministinnen bezogene Formel in diesem Zusammenhang zu gebrauchen, eine solche Wirkung?

Denn über die Wahlkampftaktik hinaus scheint das Thema virulent zu bleiben: Jetzt soll sich auch ein ehemaliger Jungdemokrat, Christoph Strässer, heute SPD, verantworten, in den achtziger Jahren für die Abschaffung des Sexualstrafrechts eingetreten zu sein. Er beteuert, darüber keine Unterlagen mehr zu besitzen. Es ist anzunehmen, dass Walters Recherchen noch mehr einschlägig Aktive zutage fördern, denn neben den Grünen optierten die Jungliberalen damals am nachdrücklichsten für die Liberalisierung des Sexualstrafrechts.

Das war – und dass sollte man sich in Erinnerung rufen – eine durchaus fortschrittliche Haltung, denn sie bezog sich ja nicht nur auf den § 216 (Pädophilie-Verbot), sondern auch auf die Strafbarkeit von Homosexualität (§ 175) und auf das Abtreibungsrecht. Junge Leute, die noch mit der Seelmann’schen „Aufklärungs“-Fibel oder von verklemmten Religionslehrern in die Geheimnisse des Kinderkriegens eingeweiht worden waren, führte der „coitus interruptus“ – zumindest im Westen – unausweichlich in die holländischen „interruptio“-Zentre. Unter 18-Jährige, die sich homosexuell betätigten, drohte das Strafrecht; das änderte sich erst mit der Reform des Sexualstrafrechts 1994.

Das libertäre Versprechen der 68er-Bewegung, so trügerisch es gewesen sein mochte, sickerte erst in den Siebzigern allmählich in eine breitere Jugendkultur ein. Es war in den frühen Achtzigern, als die Grünen gegründet wurden, noch lebendig und konturierte auch die Protest-und Sammlungsbewegung, die vieles abschöpfte und einsaugte, was in den Subkulturen gelebt und gefordert wurde. So merkwürdig, vielleicht auch abstoßend ein Phänomen wie die Stadtindianer, die für den angeblich befreienden Kuschelsex mit Kindern eintraten, heute auch wirken, es gehörte ebenso dazu wie der reaktionäre Ökologe Gruhl, die versprengten ML-Linken und die Feministinnen. Niemand hätte bei den Grünen damals ein Direktivrecht gehabt oder gewollt, „deviante“ Positionen auszuschließen. Das grüne Unternehmen verstand sich als normabweichend.

Unterstützung fanden die bei den Grünen untergeschlüpften Pädo-Aktivisten in der links-alternativen Presse, insbesondere in der taz und in Stadtmagazinen. Die für uns heute so selbstverständliche Sucht nach medialer Sensation – insbesondere auf dem Feld des Sexuellen – hat eine lange Geschichte, und wenn es Anlass und Ort zur Selbstreflexion gibt, dann in den Redaktionsstuben, in denen Ausgegrenzten und potenziell Kriminellen ein Forum geboten wurde. Aus dem Missverständnis heraus, die Sexfront-Bewegung in das neue Jahrzehnt zu retten und es könnte einvernehmlichen Sex zwischen Erwachsenen und Kindern geben, unterstützten Medienleute und Politiker die Pro-Pädophilie-Kampagne.

Aufgenommen wurde dies dann auch von Teilen der entstehenden Männerbewegung, wie eine 1976 erschienene Nummer der Zeitschrift Vorgänge zeigt. Anlässlich eines Kongresses der Humanistischen Union forderte ein „Arbeitskreis Sexualität“ die Förderung von Sexualität unter Kindern mit Kindern und die Abschaffung des § 176. „Wollen sich Männer von ihren Rollenklischees weg zu einer echten Partnerschaft hin emanzipieren“, heißt es einführend, gilt es, die ihnen vorhandene, aber durch Sozialisation weitgehend verschüttete Emotionalität wiederzufinden.“ Erwachsene sollten den „Kinderblick“ wieder gewinnen und „an Kindern Zärtlichkeit lernen“. Pädophilie kam also auch im Gewand der Männeremanzipation daher.

Linke Sexualwissenschaftler wie Eberhard Schorsch, Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch dagegen wollten sexuelle Handlungen mit Kindern „ausnahmslos hart bestraft“ sehen, wie es in einer anlässlich der ersten, 1970 anstehenden Liberalisierung des Sexualstrafrechts vorgelegten Stellungnahme heißt. Obwohl die Forschungslage damals noch dürftig war, machten sie auf die traumatisierenden Folgen von Sex zwischen Erwachsenen und Kindern aufmerksam. Kritik an der laxen Haltung zur Pädophilie kam – abgesehen von Alice Schwarzer, die sich 1980 klar gegen eine Aufhebung des Verbots positionierte – aus den Reihen der Grünen selbst. Nämlich seitens der Feministinnen; die wurden aber – wenn auch nicht vorab aus diesem Grund – langsam an den Rand oder aus der Partei gedrängt. Es waren auch Frauen, die das Thema „Missbrauch“ – ein Begriff, der in Anführungszeichen zu setzen ist, weil es einen „Gebrauch“ von Kindern nicht gibt – auf die Agenda setzten und erste Opferprojekte gründeten.

Täter oder Opfer?

Als Katharina Rutschky Feministinnen vorwarf, den Missbrauchsvorwurf als Waffe im Männerkampf einzusetzen, ging es auch um die Einschätzung des Dunkelfeldes von Tätern und Opfern. Denn Rutschky bestritt – wie auch andere – die Opferzahlen und das Ausmaß ihrer Traumatisierung. Wurde die Debatte damals noch von marginalisierten Akteurinnen bestimmt, war der Tatvorwurf als solcher aber schon so gravierend, dass er existenzielle Folgen haben konnte.

Als 2010 mit den Enthüllungen der sexuellen Übergriffe in der katholischen Kirche und, später, in den reformpädagogischen Einrichtungen die zweite Missbrauchs-Debatte in Gang kam, war das diskursive Feld weitgehend eingeebnet und die öffentliche Verteidigung von pädophilen Handlungen unmöglich geworden. Dass ausgerechnet eine sakrosankte Institution wie die katholische Kirche und die für das linke Selbstverständnis wichtige Reformpädagogik als Tatorte dieses nun ausdrücklich inkriminierten Verhaltens in Erscheinung traten, verhob Kindesmissbrauch in eine Ächtungszone, die vergleichbar ist mit dem im Deutschen Herbst ausgesprochenen Verdacht, eine kriminelle Vereinigung zu unterstützen. Als Vehikel im politischen Kampf ist das Instrument im Wahlkampf 2013 dann erstmals eingesetzt worden: Schon die Berührung mit Pädophile, so die Botschaft, verspielt die politische Integrität.

Für betroffene Männer – in selteneren Fällen auch Frauen – hat der Konsens weitreichende Folgen, ihnen wird zugemutet, auf die Realisierung ihrer Neigungen zu verzichten. Das an der Berliner Charité ansässige Projekt kein-täter-werden.de setzt auf diese freiwillige Abstinenz. „Wir enttabuisieren die Neigung, tabuisieren aber das Verhalten“, brachte dessen Leiter Klaus Beier diesen Zwang zum Selbstzwang auf den Punkt.

Hinsichtlich des Kinderschutzes war dieser normative Paradigmenwechsel wohl unumgänglich und hat immerhin dazu geführt, das breite christliche Dunkelfeld aufzuhellen. Doch als Mittel im politischen Kampf hat Missbrauch nichts zu suchen. „Man spielt. Mit Kindern und Pädophilen“, kritisierte der verstorbene Sexualwissenschaftler Günter Amendt schon 1980 den Umgang der Medien mit dem Thema. „Beide werden benutzt.“

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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