Kürzlich fragte ich einen alten Freund, ob ihm noch etwas zur RAF einfiele. Längeres Schweigen. Überhaupt nichts, meinte er. Und setzte dann doch an: Im Oktober 1977, kurz nachdem in Stuttgart-Stammheim Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen aufgefunden worden waren, habe er – noch in der Probezeit – bei einer Versicherung gearbeitet. Als einer der Kollegen sich lauthals darüber freute, dass „die Terroristen endlich tot“ seien, wagte er, die Selbstmordthese zu bezweifeln – wie viele Linke damals.
Stunden später erschien sein Abteilungsleiter und führte ihn in die Vorstandsetage: Das vollständig anwesende Führungsteam eröffnete ihm, er sei fristlos entlassen, habe sofort seinen Arbeitsplatz zu räumen und künftig Hausverbot. Unter Aufsicht packte der völlig vor den Kopf Gestoßene seine Siebensachen zusammen und wurde von einem Polizisten des Sondereinsatzkommandos (SEK) wie ein Verbrecher durch den Haupteingang abgeführt. Der Versuch, mit seinen Kollegen zu reden, ihnen den Vorgang zu erklären, scheiterte. Einer hatte ihn wohl verpfiffen. Und alle übrigen duckten sich, in irrsinniger Angst. „Ich habe mich nie im Leben so einsam gefühlt“, schließt der Freund seine Erzählung.
Eine der vielen Geschichten aus der „bleiernen Zeit“. Es ist Nachgeborenen heute kaum mehr vermittelbar, wie sich die Betriebstemperatur der Republik über das Jahr 1977 auf den Siedepunkt schraubte und derart hysterische Reaktionen hervorrief. Es begann mit der Hinrichtung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinen Begleitern Wolfgang Göbel und Georg Wurster im April in Karlsruhe und der Verhaftung von Verena Becker und Günter Sonnenberg. Sie heizte sich auf, als im Juli Jürgen Ponto, der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, erschossen wurde und kochte im September mit der Geiselnahme des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyers, dem anschließenden Showdown nach der Flugzeugentführung in Mogadischu und den Ereignissen in Stuttgart-Stammheim im Oktober schließlich über.
Freigegeben zur Hatz
Der unbedingte Entscheidungszwang wurde von der Rote Armee Fraktion in jenen Jahren auch in die gemäßigtere linke Politzone gepflanzt. „Wir wollten den Trennungsstrich zwischen uns und ihnen eindeutig setzen“, formulierte es Karl-Heinz Dellwo, der 1975 an der Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm beteiligt gewesen war, rückblickend. Und dieser Entscheidungszwang wurde vom Staat aufgenommen, der plötzlich nur noch distanzierungswillige Bürger oder „Sympathisanten“ kannte. Die letzteren waren freigegeben zur Hatz.
Ich habe den Eindruck, dass sich dort, wo es heute noch um die RAF geht, diese beiden Elemente aus jener Zeit erhalten haben: Bekenntniszwang und Einsamkeit. Es genügte nie, dass sich die RAF als Kollektiv immer rückhaltlos zu ihren Taten bekannte. Seitdem die Inhaftierten nach und nach regulär entlassen oder begnadigt worden sind, steht die Forderung im Raum, mit der Wahrheit herauszurücken und pflichtschuldig Reue zu zeigen. Am deutlichsten wurde dies im Jahr 2007 bei der Auseinandersetzung um die Begnadigung von Christian Klar, der sich, fast sprechunfähig, dieser Zumutung am nachdrücklichsten verweigerte. Geblieben ist dem zerfallenen Kollektiv die Einsamkeit, das, was heute als „Schweigekartell“ bezeichnet wird und nun den letzten Identitätskern bildet. Solange in der einen Hand jedoch das Strafgesetzbuch liegt, wird die ausgestreckte andere leer bleiben. Und ich vermute sogar, darüber hinaus.
Der Prozess gegen die 59-jährige Verena Becker vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht, die in der vergangenen Woche noch einmal wegen psychischer Beihilfe zum Mord zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, hat diesen Konnex noch einmal exemplarisch vorgeführt. Aber weder mit erpresserischer Beugehaft, noch mit vielfältiger moralischer Nötigung waren die als Zeugen geladenen RAF-Leute zu bewegen, über die konkreten Ereignisse vom Frühjahr 1977 Auskunft zu geben. Der vielfach an Becker herangetragene Appell, zu ihrer persönlichen Schuld zu stehen, verhallte resonanzlos; im Gegenteil bekräftigte sie in ihrer mit Spannung erwarteten Erklärung im Mai ihre Unschuld. „Das Gericht ist keine Wahrheitskommission“, verwies ihr Verteidiger Walter Venedey in seinem Plädoyer die Justiz in ihre Grenzen.
Die Sensation blieb aus. Die Gier danach, wer zuerst „auspacken“ und den Verräter machen würde, wurde nicht bedient. Der Verrat hätte der RAF die letzte politische Aura genommen, die noch über ihr liegt. Wenn einer oder eine mit dem Finger auf seine ehemaligen Kombattanten gewiesen oder vor Michael Buback, dem Nebenkläger, auf die Knie gegangen wäre, hätte die angebliche Katharsis, die der Deutsche Herbst 1977 angeblich bedeutet hat, ihr Finale gefunden: Dann gäbe es keine Sympathisanten mehr, sondern nur noch Bürger. Wer dies ernsthaft erwartet hat, hat überhaupt nichts verstanden.
Der Staat auf der Anklagebank
Dass Michael Buback mit der Obsession des exponierten Opfers die staatlichen Ankläger überhaupt in Bewegung brachte, wird wohl einmal in die Justizgeschichte eingehen. Der Sohn Siegfried Bubacks war glaubwürdig in seiner Wahrheitssuche, auch wenn sich dieses Begehren verselbständigt und er sich seine eigene Wahrheit zusammengezimmert hat. Und er war sehr mutig in der Art, wie er sich dem Bundesanwalt Walter Hemberger mit seinem Verdacht entgegenstellte, der Staat könnte die Hand über Verena Becker gehalten haben.
Denn in diesem letzen großen Prozess ist ironischerweise etwas in Erfüllung gegangen, was die RAF seit dem ersten Prozess von 1972 immer wieder vergeblich versucht hatte: Den Staat auf die Anklagebank oder zumindest in den Zeugenstand zu zwingen. Mit Becker, die spätestens seit 1982, vielleicht aber auch schon 1977, mit dem Verfassungsschutz zusammen gearbeitet hatte, rückte der Staat in eine Verdachtszone; zumal just in dem Moment, in dem der Staatsschutz durch den NSU-Skandal eine selten desolate Figur abgibt. Das „Systemische“ zwischen der RAF und dem Staat, das sich früher in den Einstellungen und Methoden äußerte, erhält mit dieser Rollenvermischung eine ganz neue Dimension.
Man darf aber auch behaupten, dass es der bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht in erster Linie um „die Wahrheit“ ging. Die Forderung, endlich reinen Tisch zu machen, hat sich mit den Jahren immer mehr verselbstständigt und zielte durchaus auch auf eine späte Demütigung der Terroristen. Deshalb ist die Zahl der Berichte über die mühsam sich hinschleppenden 97 Verhandlungstage auch sehr übersichtlich, sie weisen nur Ausschläge auf, wenn prominente Zeugen geladen sind. Es fehlte nicht nur der spektakuläre Schlagabtausch zwischen den einstmals so rüden Angeklagten und dem Gericht – diese Rolle übernahm in abgeschwächter Form Michael Buback –, mehr noch gab die stille, in sich gekehrte Verena Becker so gar nicht mehr die radikale„schwarze Braut“, als die sie die Gazetten einmal belieferte.
Das mediale Bedürfnis nach psychologischer Introspektion und Personalisierung blieb unbefriedigt. So konnten die Beobachter nur in jeden Blick der Angeklagten auf Michael Buback einen seelischen Aufruhr hineindeuten. Männliche Beobachter, wohlgemerkt: Es ist auffällig, dass RAF-Angelegenheiten, auch wenn Frauen vor Gericht stehen, unter Journalistinnen kaum Resonanz finden.
Zum Pop-Mythos geworden
Andererseits funktionierte auch die öffentliche und pflichtschuldigst herbeigeschriebene Inszenierung des Nebenklägers als Opfer nicht. Dem unbeirrbaren Alleinkämpfer Buback wurde zwar viel Respekt gezollt, doch die große öffentliche Bewegung, die Welle der Anteilnahme, das Emotive blieb aus. Vielleicht, weil die Dinge als verjährt gelten oder weil sich mancher Stammtisch in Zeiten der Krise eher über die Geldverschwendung echauffiert haben mag. Es gibt aber auch Gründe, die tiefer liegen.
Mit der Selbstauflösung der RAF im Jahr 1998 hat eine eigenartige Vereinnahmung ihres Vermächtnisses und ihrer Zeichen begonnen. Die Popkultur adaptierte nicht nur ihre Embleme – die mit dem Einbruch des realen Terrors 2001 allerdings wieder fast vollständig verschwanden –, in Besitz genommen wurde sie auch mittels einer Flut von Büchern, Filmen und sogar einer, wenn auch heftig umstrittenen, Ausstellung. Vor allem das Kino übernahm die Befestigung des Mythos, den die Gruppe seit ihres Bestehens durch ihr öffentlich inszeniertes Leiden und Sterben reklametechnisch brillant outsourcte: „Die deutsche Öffentlichkeit war in die RAF verliebt“, umschrieb Georg Seeßlen diese libidinöse Besetzung vor fünf Jahren im Freitag. Ein Affekt, der dem öffentlichen Auftrag, die RAF nicht weiter zu glorifizieren und ihr so einen Rest von Legitimität zu verschaffen, immer entgegenstand. Möglich, dass man sich diesen Mythos gar nicht aus den Köpfen nehmen lassen will.
Denn im Unterschied zur Neuen Linken der siebziger Jahre, die mit schlechtem Gewissen und Neidgefühlen jenseits der Demarkationslinie der Gewalt geblieben ist, hat die RAF etwas vorgeführt, was schon damals die saturierte Republik provoziert hat: Sie hat sich existenziell mit ihren Körpern als Opfergabe in die Waagschale geworfen, indem sie das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellte. Ihre Mitglieder haben sich bewusst ausgeschlossen und als basale Kreatur-Maschinen ausgesetzt, jenseits aller Differenzierung und jeden Vermittlungswillens. Von Anfang an auf verlorenem Posten, fühlten sie sich dennoch als „Vortrupp des Weltgeistes“. Was der RAF vorschwebte und was sie tat, war ganz und gar nicht an den politischen Mainstream anschlussfähig, nicht einmal an die außerparlamentarische Linke. Das war das Faszinosum.
Die Gewaltphantasien leben fort
Aber wer möchte schon dafür garantieren, dass – die heutige Krise auf Dauer gestellt und aufs Äußerste weitergedacht – eine neue RAF, wo immer sie entsteht und wo immer sie sich politisch verortet, einen solchen Anschluss nicht herstellen könnte, wenn sie die „Köpfe“ des Finanzkapitals ins Visier nähme (auch wenn das „Böse“ nicht mehr so einfach identifizierbar ist wie noch vor 40 Jahren). Der Mythos RAF bewahrt die Erinnerung an die Möglichkeit auf, in unüberschaubarer Komplexität unterkomplex zu denken und zu handeln. Das ist ihr politisches Vermächtnis, das sich auch durch keinen nur auf den Kriminalfall reduzierten Prozess entsorgen lässt.
In den siebziger Jahren war es dem Staat darum gegangen, „um die Köpfe“ zu kämpfen, jene, die nahe an der Demarkationslinie der Gewalt standen; denn die „Kinder“, die zur RAF gegangen waren, galten sowieso als verloren. Es ging darum, eine von der verleugneten furchtbaren deutschen Vergangenheit imprägnierte junge Generation für die zivile Gesellschaft zu retten. Aus der linken Szene von damals entstanden die späteren sozialen Bewegungen, die bis heute vergleichsweise wenig anfällig sind für Gewalt. Aber die Gewalt- und Omnipotenzphantasien, die das „rote Jahrzehnt“ durchzogen haben, leben fort, im linken wie im rechten Lager.
Indessen hat sich auch das, was sich heute in den Reihen der Rechten abspielt und vom Verfassungsschutz auf so groteske Weise unterschätzt und bagatellisiert wird, früh angekündigt: 1977 haben Neonazis im Umfeld des besetzten Bauplatzes des geplanten Kernkraftwerks in Wyhl einen Brandanschlag verübt, bei dem einer der Besetzer schwere Verletzungen erlitt. Ich kannte ihn gut, wir waren auf derselben Schule, hatten viel miteinander zu tun. Wenn wir irgendwann einmal unsere eigenen Geschichten erzählen und nicht mehr immerfort den Mythos RAF im Kino goutieren, können wir aufatmen. Und weiterdenken.
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