Autoritarismus-Studie zu Querdenkern und AfD-Anhängern: Wohin diese Fährte führt
Gesellschaft Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben mit „autoritären Innovateuren“ und „regressiven Rebellen“ gesprochen. Was lässt sich aus ihrer Studie zum autoritären Charakter von heute ableiten? Eine Analyse ihres Buchs „Gekränkte Freiheit“
Tierherden in Afrika folgen den Flüssen und dem Regen. Reiner Instinkt. Und der Mensch? Nach jeder Wahl kurz nach 18 Uhr beginnt die Fährtensuche. Von welchem Ort aus und wohin ist das aufrecht gehende und aufgeklärte Tier dieses Mal gezogen? Die Niedersachsenwahl hat Erstaunliches offenbart. Wie erwartbar haben die Volksparteien und vor allem die FDP viele Wähler:innen an die AfD verloren. Die Grünen keine:n einzige:n. Das ist zwar kaum glaubhaft, so aber dokumentiert. Sind grüne Auen eine Festung der Demokratie? Oder tummeln sich dort inzwischen nur noch die Saturierten und Angstfreien?
Angesichts der Befunde, die die Basler Soziolog:innen Oliver Nachtwey und Nadine Frey vergangenen Herbst über die Wurzeln der Querdenker-Bewegung vorgelegt haben und die
n und die unter anderem auf einer Befragung im Südwesten Deutschlands und der Schweiz fußen, reibt man sich dann doch ein bisschen die Augen. Denn danach speisen sich die Reihen der Demonstrant:innen gegen die Coronamaßnahmen zumindest im Südwesten der Republik maßgeblich auch aus der linksalternativen Bewegung der siebziger und achtziger Jahre, also dem Gründungsmilieu der Grünen. Nun hat Nachtwey, zusammen mit der Literatursoziologin Carolin Amlinger, das empirische Material eingebettet in eine ausgreifende soziologische Betrachtung mit dem Titel Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus (Suhrkamp).Deren These: Die Figur des Autoritären habe sich in der Spätmoderne entscheidend verändert. Zwar gebe es noch immer die klassischen Rechten, die Volk und Führer auf dem Schild tragen, doch sie werden nun flankiert von antiautoritär gestimmten „Rebellen“, die im Rückgriff auf bürgerliche Rechte eine selbstbezogene Freiheit reklamierten und sie wie einen persönlichen Besitzstand einforderten. Im Corona-Kontext: Keine Masken und keine Bewegungseinschränkung im Namen unveräußerlicher Freiheit. Libertär sei diese Haltung im Hinblick auf die Haltung gegenüber dem Staat, autoritär, weil Meinungen und Interessen anderer ignoriert werden – in diesem Zusammenhang etwa die Schutzbedürfnisse vulnerabler Gruppen – und sie sich selbst zur Norm macht.Überforderte MarktbürgerAmlinger und Nachtwey betreiben, um ihr durchaus sprechendes empirisches Material zu erden – neben einer Onlinebefragung und der Auswertung von Onlineplattformen wurden 45 der Querdenker-Bewegung Nahestehende intensiv befragt – einen gewaltigen theoretischen Aufwand. Das lässt fragen, ob hier – gegenüber den „gefallenen Intellektuellen“, von denen weiter unten noch die Rede sein wird – Deutungshoheit verteidigt werden soll. Auffällig ist jedenfalls, dass in die Breite wirkende Soziologen wie etwa auch Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa ihren Studien lange theoretische Einführungen voranstellen, als ob ein Erbe im letzten Gefecht zu verteidigen sei. Kulturkampf findet, erstaunlich, immer noch zwischen zwei Buchdeckeln statt.In diesem Fall handelt es sich um den Kern der Kritischen Theorie, die das bürgerliche Aufklärungsversprechen auf seine totalitären Tendenzen abgeklopft hat, indem sie die der Aufklärung inhärenten Zerstörungskräfte entlarvte. Der Kapitalismus, der seine eigenen Grundlagen verleugnet und sich selbst zum Mythos erklärt, bringt Sozialpathologien hervor, an denen die Individuen leiden. In den Studien zum autoritären Charakter, an die Amlinger und Nachtwey ausführlich anknüpfen, untersuchten Theodor W. Adorno und seine Kollegen in den vierziger Jahren im amerikanischen Exil Einstellungen und Persönlichkeitsdispositionen, die zu antisemitischem und autoritärem Verhalten führten und faschistische Bewegungen beförderten. Die aus soziologischer Sicht durchaus bahnbrechende Untersuchung wurde jedoch schon von Zeitgenossen kritisch kommentiert, wie sich in dem gerade erschienenen, unbedingt lesenswerten Briefwechsel von Günther Anders mit Vertretern der Kritischen Theorie nachlesen lässt (Gut, dass wir einmal die hot potatoes ausgraben, Beck 2022). Ihm würde, schreibt Anders an Friedrich Pollock ans Institut für Sozialforschung (IfS) 1953, „eine völlige Identifikation mit den brains“, mit „der Beliebigkeit der Skalen“ und der „sehr schematischen Verwendung, die einige contributors von der Psychoanalyse gemacht haben“, nicht gelingen. Anders hätte die Studie übersetzen sollen – und lehnte ab. Spielten am IfS auch nach dem Krieg Triebunterdrückung, äußerer Anpassungsdruck und Repression noch die entscheidende Rolle bei der Ausprägung autoritärer Persönlichkeit, verlagern sich in der Spätmoderne, so referieren Amlinger und Nachtwey die neueren Wissensbestände, die Verhaltensanforderungen in das Individuum selbst. Die Kultur des Vergleichens bei gleichzeitiger Verflüssigung einst stabiler Kategorien wie Geschlecht oder Ethnie, der unablässige Zwang zur Entscheidung bei eingeschränkten Handlungsressourcen oder die Aufforderung, sich als singuläres Subjekt unablässig zu optimieren, hat einen chronisch überforderten Marktbürger hervorgebracht, der lediglich auf seine Kundenrechte pochen kann. Dem Modus des Wettbewerbs entkommt niemand, doch es gibt keine Garantie dafür, dass der Aufwand sich lohnt. Die vorenthaltene Anerkennung kränkt das in die Autonomie entlassene Subjekt, das zudem von den Unsicherheiten der Risikogesellschaft geplagt wird. Verbürgtes Wissen ist, wie Corona zeigt, brüchig geworden, der Irrtum Regel. Das begünstigt Misstrauen, Verdacht und Mythen, wie sie aus der Querdenkerszene bekannt sind.Amlinger und Nachtwey greifen dabei auf psychoanalytische und sozialpsychologische Theoreme zurück. Das spätmoderne Subjekt ist besonders kränkungsanfällig und schwankt zwischen Schuld und Scham, Groll und Zorn und kultiviert dabei das Ressentiment. Der verwehrte Aufstieg führt zur Abwertung des Vergleichsobjekts. Im „Protest gegen die Demütigung“ findet sich, so ihr empirischer Befund, eine sich selbst ermächtigende, sendungsbewusste autoritäre „Affektgemeinschaft der Ablehnung“ zusammen, „Erweckte“, die gegen die „Schlafschafe“, den Staat und das gesamte Konsenskollektiv ihre „verdinglichte“ Freiheit verteidigt. Verdinglicht, weil diese nicht mehr als gesellschaftliches Verhältnis, sondern als persönlicher Besitz verstanden wird.Schwache BindungskräfteWährend die enttäuschten „autoritären Innovateure“, eine Teilgruppe der libertären Autoritäten, noch auf dem Boden einer geteilten Realität stehen, aber neue Wege der Skandalisierung und des Protests – wie etwa mittels AfD-Wahl – suchen, haben sich die „regressiven Rebellen“ bereits aus dem imaginierten „Ausnahmezustand“ zurückgezogen in Verschwörungsvisionen und destruktive Abwehr, die Gewaltbereitschaft miteinschließt. Einst Angehörige innovativer Avantgarden, die einmal bei Greenpeace, in Landkommunen und später sogar bei Campact beheimatet waren, finden sie sich nun im Treibsand rechter Rebellion mit stark esoterischen und spirituellen Funkenschlägen. Eine dritte Formation sind jene „gefallenen Intellektuellen“ wie Peter Sloterdijk und andere, die, von Expert:innen oder selbstbewussten Minderheiten verdrängt, ihre Deutungshoheit verteidigen. Sie skandalisieren, was sie als Unterdrückung empfinden (zum Beispiel Gendersternchen) im Namen der Mehrheit und bilden dabei eine Querfront mit den Rechten. „Machtfragen“, so ein Resümee, „werden heutzutage im Register der Moral ausgetragen“.Doch der von den beiden Autor:innen stark gemachten sozialen „Kränkung“ ist das Pathologische begrifflich schon eingeschrieben. In den „regressiven Rebellen“ und „autoritären Innovateuren“, moderne Abkömmlinge der in den Studien zum autoritären Charakter eher vernachlässigten „Rebellen“ und „Spinner“, wiederholen sich die sozialpathologischen Annahmen der Kritischen Theorie. Von der Leidenschaft der Soziologie für Idealtypen einmal abgesehen: Handelt es sich bei dieser „neuen anthropologischen Spezies“ um den notwendigen Ausfluss einer pathologischen Gesellschaft – oder um deren Abweichung? Das Festhalten der Autor:innen an einem durchaus von ihnen problematisierten Fortschrittsbegriff lässt fast das Letztere vermuten. „Was passiert“, fragen sie beunruhigt, „wenn wir nicht zur Normalität zurückkehren?“Die Antwort auf die wichtigste, im Buch mehrfach aufgeworfene Frage bleibt jedenfalls vage: „Warum driften manche Menschen in imaginäre Scheinwelten ab und neigen zu aggressivem Aufbegehren gegen übergeordnete Instanzen und andere nicht?“ Warum zeigt sich eine hoch individualisierte Metropole wie beispielsweise Berlin offenbar resistenter gegenüber dem Drift nach rechts als etwa das ländliche Schwaben oder die reiche Schweiz? Die beiden Autoren sind sich durchaus bewusst, dass „soziale Dilemmata aversive Emotionen auslösen können, aber nicht müssen“.Einige Hinweise, die über soziale Abstiegsängste und die Zumutungen der Individualisierung hinausgehen, finden sich in ihrer Untersuchung. So könnte zum Beispiel der Verlust von Entlastungskollektiven wie Kirchen, Gewerkschaften oder Parteien eine Ursache sein für die Neigung zum Solipsismus. Viele Befragte waren früher in der SPD oder bei den Grünen aktiv und haben sich enttäuscht abgewandt. Von familiären Beziehungen abgesehen sind die sozialen Bindungskräfte oft schwach und wirken nicht mehr als Korrektiv.Eine Rolle dürfte wohl auch der abhandengekommene utopische Möglichkeitsraum spielen – zumindest für die aus dem linken Spektrum stammenden Vertreter des libertären Autoritarismus eine tiefe Kränkung. Die „transzendentale Obdachlosigkeit“, die Georg Lukács schon 1916 konstatierte, ist nach dem Verlust politischer Gegenentwürfe umfassend. „Die antikapitalistische Säure (der Alternativbewegung) kippte zur lebensweltlichen Base der Selbstverwirklichung.“ Doch all dies kratzt wohl nur an der Oberfläche des Phänomens. In jedem Autoritären, gleich welcher Ausprägung, steckt eine Geschichte, die sich idealtypischer Beschreibung entzieht.
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