Antworten zu Covid

Pandemie Täglich prasseln absolute Infektionszahlen auf uns ein. Ergibt das Sinn? Das ist nicht die einzige berechtigte Frage in Sachen Corona
Ausgabe 42/2020
Antworten zu Covid

Illustration: der Freitag

Als Lothar Wieler, Direktor des Robert-Koch-Instituts (RKI), vergangene Woche wieder einmal mit Gesundheitsminister Jens Spahn vor die Presse trat, wurde er gefragt, warum die Verantwortlichen das Pandemiegeschehen in Deutschland und die daraus folgenden Maßnahmen immer nur an den steigenden Infektionszahlen festmachten. Wieler zögerte einige Augenblicke und verwies dann auf die Meldedaten, die das Institut gesetzlich verpflichtet sei, regelmäßig zu übermitteln. Alle übrigen relevanten Informationen, fügte er hinzu, ließen sich unschwer in den Tages- und Wochenberichten auf der Internetseite des Instituts abrufen. Dennoch wird täglich das immer gleiche dürre Zahlengerüst aus Infizierten, Genesenen und Todesfällen in den medialen Kreislauf eingespeist. Das bilde, so inzwischen auch die Kritik seriöser Wissenschaftler, die Komplexität des Geschehens nicht ab, evoziere falsche Rückschlüsse und bereite die Bevölkerung lediglich auf neue unpopuläre Maßnahmen vor. Sie fordern, die Pandemie-Strategie zu verändern. Wir haben versucht, einige umstrittene Parameter des Infektionsgeschehens aufzuhellen.

Was sagt die Zahl der Infektionen?

Dass die Infektion seit Ende Juli wieder an Dynamik gewinnt, wird wohl kaum jemand bestreiten: Lagen die Neuinfektionen am 13. Juli bundesweit bei 159, waren es am 13. Oktober 4.122. Dass dies nicht nur auf die Ausweitung der Tests zurückzuführen ist, beweisen folgende Zahlen: In Kalenderwoche (KW) 29 wurden bei 538.701 Testungen 4.497 Infektionsfälle aufgespürt; bis Oktober (KW 41) haben sich die Tests zwar verdoppelt (auf über eine Million), jedoch wurden dabei 21.527 Menschen positiv getestet. Zweifellos hat die zunehmende Testhäufigkeit aber etwas Licht in die zu Beginn der Pandemie hohe Dunkelziffer gebracht. Über die Prävalenz, also den tatsächlichen Anteil der Infektion in der Gesamtbevölkerung, wissen wir immer noch wenig. Das ist der Ansatzpunkt von Kritikern wie Stefan Willich. Der Chef der Epidemiologie der Berliner Charité findet die Grenzwerte, die Politiker für Einschränkungen in Anschlag bringen – 50 Infektionsfälle pro 100.000 Einwohner – völlig willkürlich, ihnen fehle jeder vernünftige Bezugsrahmen. Er fordert repräsentative Stichproben, die Auskunft geben über das tatsächliche Infektionsgeschehen in einer Region. Begründet wird die Zahl 50 mit den Kapazitäten der Gesundheitsämter, Kontaktpersonen zu verfolgen, obwohl diese dies in vollem Umfang inzwischen gar nicht mehr schaffen. Die politische Risikobewertung folgt, wie schon früher, als es etwa um den Mund-Nasen-Schutz ging, weniger epidemiologischen als ressourcenstrategischen Prämissen.

Welche Rolle spielt die Wissenschaft?

Sie liefert zu wenig und viel zu Einseitiges, so lautet das Verdikt vieler nicht epidemiologischer Experten, Public-Health-Spezialisten und Statistiker ebenso wie von Soziologen und Psychologen, die sich aus dem inneren Kreis der Politikberatung ausgeschlossen sahen und sehen. Schon im Frühjahr forderte die Soziologin Jutta Allmendinger, den Blick auf die Pandemie multidisziplinär zu öffnen. Zwar hätten die ohnehin dezimierten Gesundheitsämter einen entscheidenden Anteil an der Eindämmung der Pandemie geleistet, so auch der Leiter des Gesundheitsamtes Frankfurt am Main, René Gottschalk – ihre Expertise sei aber kaum abgerufen worden. Viel grundsätzlicher kritisiert der Medizinstatistiker Gerd Antes die Rolle der Wissenschaft, die in der Krise keine gute Figur gemacht habe: zu viel, zu schnell, zu unkoordiniert, so sein Eindruck. Die Forschenden hätten sich unter dem Druck der Öffentlichkeit und der Politik „auf die Überholspur“ gesetzt, um den Preis wissenschaftlicher Qualität, wie die Skandale um die Medikamente Hydroxychloroquin und Dexamethason offenbart hätten. Wie in der Gesellschaft insgesamt neigten auch die Wissenschaftler zu Lagerbildung und verrohtem Umgang untereinander. „Die Wissenschaft hat versagt, gute und schnelle Antworten auf die Pandemie zu geben“, urteilte auch der Chemie-Nobelpreisträger Michael Levitt auf der diesjährigen Nobelpreisträgertagung in Lindau.

Was wissen wir über die Verbreitung?

Über das die Covid-19-Krankheit auslösende, offenbar wenig zu Veränderung neigende Virus SARS-CoV-2 ist einiges bekannt: Es wird über Tröpfchen übertragen, wenig aber über Oberflächen; es löst bei jüngeren Menschen mildere Verläufe aus – wenn auch nicht immer – als bei älteren und befällt nun in der zweiten Welle zunächst mehr jüngere Personen als im Frühjahr. Aber was, moniert der Medizinstatistiker Gerd Antes, wissen wir eigentlich über die Frage, welche Maßnahmen im Lockdown wirklich zu einer Eindämmung der Seuche beigetragen haben? Müssen wir im Fall einer Infektion die ganze Schule schließen, die Klasse nach Hause schicken oder nur ein paar Schüler? Ist man beim Friseur oder im Einzelhandel dem Virus tatsächlich weniger ausgesetzt als in der Kneipe? Was wissen wir über die Ansteckungsgefahr bei Inlandsreisen? Das hätte in der relativen Ruhephase im Sommer untersucht und in eine verlässliche Nutzen-Risiko-Bewertung eingehen können und sollen, so Antes, bis 2018 Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums, das die evidentbasierte Medizin hierzulande auf den Weg gebracht hat. Stattdessen starrte die ganze Welt auf einen künftigen Impfstoff.

Bekomme ich ein Bett im Krankenhaus?

Viele Einschränkungen während der Epidemie orientierten sich an den Kapazitäten der Krankenhäuser, an den zur Verfügung stehenden Intensivbetten und am einsetzbaren Personal. Erstere wurden zu Beginn der Pandemie stark aufgestockt, zulasten der medizinischen Grund- und Regelversorgung. Laut Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) stehen derzeit 30.276 Betten zur Verfügung, 21.330 davon sind belegt, 8.946 frei (Stand 13. Oktober). 618 Covid-19-Patienten werden intensivmedizinisch behandelt, 319davon müssen beatmet werden. Diese vergleichsweise niedrige Zahl geht darauf zurück, dass es derzeit mehr jüngere als ältere Infizierte gibt, was sich schnell wieder ändern kann. Ein Bettenengpass ist vorerst aber nicht zu befürchten, auch wenn die vielen aufgeschobenen Operationen des vergangenen halben Jahres nachgeholt werden müssen. Probleme wird es beim Personal geben, wie Ulrich Frei, der Versorgungsdirektor der Berliner Charité, am vergangenen Freitag sagte. Sehr viele Intensivbetten hätten schon bisher nicht belegt werden können, weil niemand da sei, der die Patienten versorge.

Wie viele Tote leisten wir uns?

Mit 1.737 Toten erreichte die erste Infektionswelle in Deutschland Mitte April, in KW 15, ihren Höhepunkt und flachte in den kommenden zehn Wochen ab auf zweistellige Zahlen, insgesamt sind 9.634 Patienten (Stand 13. Oktober) gestorben. Derzeit bewegen sich die wöchentlichen Zahlen im niedrigen zweistelligen Bereich; auch die Todesrate, also das Verhältnis von Infizierten und Gestorbenen, sinkt. Daher gilt die Krankheit nun als weniger aggressiv. Die befürchtete Übersterblichkeit hat sich nicht eingestellt. Nach einer Sonderauswertung aus dem September wurden mit Ausnahme vom April 2020 keine signifikanten Abweichungen von Todesfällen gegenüber den Vorjahren festgestellt, Ausschläge finden sich dagegen in der Zeit der Grippewelle 2017/18. Angesichts niedriger Hospitalisierungs- und Todesraten fordert der Leiter des Gesundheitsamtes Frankfurt am Main, René Gottschalk, die nur auf Eindämmung orientierte Pandemie-Strategie zu ändern, verbesserten Schutz für verletzliche Gruppen und Folgeminderungsstrategien zu entwickeln. Die Angaben zur Übersterblichkeit aber dürften vorläufig sein, die veröffentlichten Zahlen sind Rohdaten. Wie bei großen Grippewellen wird die Covid-19-Übersterblichkeit erst nach den statistischen Hochrechnungen Anfang nächsten Jahres sicher zu bestimmen sein. Zu berücksichtigen ist dann auch, dass gerade streng isolierte alte Menschen 2020 weniger an u.a. Hitzefolgen gestorben sein dürften. Nach Einschätzung des Deutschen Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin bleibt der mediale Umgang mit der Covid-19-Sterblichkeit aber verengt, solange der Bezug auf Vergleichsgruppen oder -krankheiten fehlt. Jährlich sterben etwa 350.000 Menschen in Deutschland an Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Wie gut sind eigentlich Corona-Tests?

Beim bisherigen PCR-Test wird ein Abstrich aus dem tiefen Mund-Rachen-Bereich entnommen, sachgemäßer Umgang bei der Abnahme und beim Transport ist also wichtige Voraussetzung für die Aussagefähigkeit – und daran hapert es oft. Die Sicherheit des Tests richtet sich wiederum nach ihrer Sensitivität (die Genauigkeit der Infektionserkennung) und Spezifität (die Fähigkeit, gesunde Personen als solche zu erkennen), in diesem Fall liegt die Sensitivität bei 99, die Spezifität bei mindestens 95 Prozent. Wichtig ist auch, wie stark durchseucht eine Population ist: Je höher das Risiko einer Infektion, desto sicherer wird die Infektion erkannt und umgekehrt. Wenn sich momentan also viele reisewillige, wahrscheinlich nicht infizierte Menschen testen lassen, können sie davon ausgehen, dass die als „gesund“ getesteten wirklich gesund sind. Allerdings müssen sie auch mit erheblich mehr falsch-positiven Ergebnissen rechnen und gegebenenfalls zu Hause bleiben. Corona-Massentests bringen also gar nichts und verschwenden nur Testkapazitäten. Zu falsch-positiven Testresultaten kann es auch bei nur geringfügiger, nicht infektiöser Virenbelastung kommen oder aufgrund eines Infekts durch ein anderes Coronavirus. Um dies festzustellen, müsste man die Erreger im Labor anzüchten.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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