Arbeit am Exodus

Nachruf Zum Tod von André und Dorine Gorz

Man muss sich die Zeit vergegenwärtigen, um die intellektuelle Wucht, die Irritation, die dieser Mann einmal ausgelöst hat, zu verstehen. Anfang der achtziger Jahre, als die zerfallene Neue Linke noch ihren Kater pflegte und sich am Horizont die neuen sozialen Bewegungen gerade erst abzeichneten, behauptete dieser Franzose mit dem ursprünglich sehr deutschen Namen Gerhard Hirsch, dass wir Abschied zu nehmen hätten von jenem revolutionären Subjekt, dem einzig zuzutrauen war, die Verhältnisse umzukrempeln. Sagt dies nicht vor allem deshalb, weil das Proletariat zu lahm, zu saturiert und zu wenig revolutionär gestimmt gewesen wäre, sondern weil die objektiven Verhältnisse daran arbeiteten, es abzuschaffen. Von Globalisierung sprach man damals noch nicht, obwohl das Kapital seine ersten nomadischen Runden drehte und der Nationalstaat seinen Zugriff darauf zu verlieren begann. Also hockte man wieder einmal zusammen in Zirkeln und stritt mit dem Abwesenden darüber, ob es ein Jenseits geben könnte von Lohnarbeit oder ob die Nicht-Klasse der vom Arbeitsmarkt Ausgestoßenen reif sei für ein selbst bestimmtes Leben. Abschied vom Proletariat (1980) und das drei Jahre später erschienene Wege ins Paradies waren zusammen die neue Bibel derer, die vom Zweifel an der sozialistischen Erlösung angefressen waren, aber nicht davon lassen wollten, der "Sphäre der Notwendigkeit" eine "Sphäre der Freiheit" entgegen zu setzen. Zum ersten Mal drohte die Linke nicht mehr dem mit Exkommunizierung, der das Arbeitsevangelium verabschiedete zugunsten des Gedankens, die Befreiung auch außerhalb der kapitalistischen Lohnarbeit zu finden.

Fast jedenfalls. Denn ganz mochte Gorz die Nicht-Arbeiter nicht aus ihrer Arbeitspflicht entlassen; viel Diskussion erregte damals seine Forderung, das Sozialeinkommen an die Pflichtarbeit von 20.000 Stunden pro Leben - das, was sich heutzutage Lebensarbeitskonto nennt - zu binden. Dennoch war er - neben ein paar weitsichtig-liberalen Ökonomen - einer der ersten, der die Diskussion um das Grundeinkommen anstieß.

Vielleicht wäre dies auch die existenzielle Lösung für den zeitlebens in intellektuellen Projekten vergrabenen, manisch schreibenden, aber damit wenig Geld verdienenden Philosophen gewesen. Dann wäre ihm die journalistische Lohnarbeit - zunächst in der Paris Presse, ab 1960 bei Sartres Les Temps Modernes und später beim Nouvel Observateur - ebenso erspart geblieben wie seiner Frau Dorine die Notwendigkeit, das Familienbudget durch Jobs aller Art immer wieder aufbessern zu müssen.

Denn dem 1923 in Wien geborenen Gorz, der wie sein Landsmann Jean Améry einen jüdischen Vater und eine katholische Mutter hatte und der die Nazizeit in einem Schweizer Internat versteckt überlebte, war es, wie schon in seiner frühen Selbstanalyse Der Verräter (1958) nachzulesen ist, nie um eine bürgerliche Existenz zu tun. "Dem in einer fremden und feindlichen Welt eingesperrten Menschen", heißt es dort, "bieten sich drei Möglichkeiten: auf seine Flucht hinzuarbeiten; sich mit seinem Schicksal abzufinden, und in den Traum zu flüchten; zu versuchen, die Ordnung, die ihn gefangen hält, für sich einzunehmen". Für ihn, Gorz, sei die Befreiungsarbeit, die höchste moralische Bedeutung hatte, immer vorrangig gewesen. In den sechziger Jahren engagierte er sich für den Kommunismus, später setzte er auf die sozialen Bewegungen.

Und so hat er auch nicht abgelassen von seinem Unterfangen, die postfordistische Gesellschaft analytisch zu durchdringen und den "Exodus" aus der kapitalistischen Gefangenschaft intellektuell vorzubereiten. Den Begriff Exodus hatte Gorz in Arbeit zwischen Misere und Utopie (1997, deutsch 2000) selbst eingeführt und damit das Transitorische der Situation, den Zustand zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht, umrissen. Das Messianische war ihm bei aller rationalen Analytik - im ersten Teil dieses Buches grandios bestätigt -, nicht ganz fremd, vielleicht ein Gegenreflex auf seine exterritorialisierte Existenz, vielleicht aber auch ein unbewusstes Erbe der jüdischen Herkunft. In diesem Buch revidierte Gorz auch seine Position zum bedingungslosen Grundeinkommen: "Nur die Bedingungslosigkeit kann die Unabhängigkeit der Aktivitäten wahren, die nur um ihrer selbst willen ausgeführt sinnvoll sind."

In seinem letzten großen Werk über die Zukunft der Wissensgesellschaft (Wissen, Wert und Kapital, Zürich 2004), das Gorz besonders am Herzen lag, das aber zumindest in Deutschland nicht angemessen wahrgenommen wurde, geht es unter anderem um Maschinenintelligenz und eine Wissensökonomie, die sich sukzessive der körperlichen Substanz des Menschen entledigt. Er hielt dieses Buch für besser als das vorangehende, und, wie er in einem Brief schrieb, "jedenfalls nicht für utopisch". Und weiter fährt er fort: "Wir gehen ja einer posthumanen ›totalitären Universalmaschine‹ - wie sie Günter Anders nannte - viel schneller entgegen als einer echten Wissensgesellschaft." Anders´ Name fällt nicht zufällig - es waren die Technokritiker wie Anders oder auch Ivan Illich, mit dem er später befreundet war, die Gorz stark beeinflussten.

Ein Interview wollte er 2005, als ich ihn darum bat, nicht mehr geben. Er sei nicht gut im Gespräch, entschuldigte er sich mit seiner sehr leisen, kaum hörbaren Stimme, die mir nun in seinem letzten, persönlichsten und - wie ich finde - schönsten Buch zu begegnen scheint, dem Brief an D. Geschichte einer Liebe (2006, deutsch 2007). Es ist eine nachgelassene Liebeserklärung an seine Frau Dorine, die ihm ein "anderswo", eine Welt eröffnet hatte, "in die ich mich davonstehlen konnte ... ohne Verpflichtungen und ohne Zugehörigkeit".

In gewisser Hinsicht handelt es sich aber auch um eine Umschrift des Verräters und um eine Wiedergutmachung: Seit 1947 gemeinsam in Liebe verbunden, "hast du viele Jahre daran arbeiten müssen, um mich dahin zu bringen, meine Existenz auf mich zu nehmen." In Gorz´ Sätzen schwingt noch immer die Ungläubigkeit mit, dass die schöne Britin ihn, den "mittellosen Austrian Jew", damals in Lausanne überhaupt wahrgenommen und niemals mehr verlassen hat. "Seit achtundfünfzig Jahren", schließt das schmale Bändchen, "leben wir nun zusammen und ich liebe dich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich wieder von neuem in Dich verliebt, und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag."

Sie waren sich einig, dass keiner dem anderen ins Grab sehen sollte, und so haben sie sich - sie schon lange schwer krank - in ihrem Haus in Vosnon in der Champagne gemeinsam das Leben genommen.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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