Sechs Euro fünfzig waren vor Jahresfrist angedacht; davon will mittlerweile niemand mehr etwas wissen. Achteinhalb Euro, schätzte vergangene Woche die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), soll die ab 2005 fällige Zahnversicherung mindestens kosten. Und vielleicht bleibt es auch gar nicht beim verabredeten Einheitsbetrag, sondern die neue Versicherung wird doch vom Einkommen abhängig werden. Dazu allerdings wäre eine Gesetzesänderung notwendig, die von der CDU/CSU mitgetragen werden müsste. Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Bundestags, Klaus Kirschner (SPD), wiederum schlägt vor, die gesamte Zahnersatzpolice zu kippen. Die Kassen sind für eine Verschiebung.
Denn derzeit ist noch nicht einmal klar, wie die technische Abwicklung vonstatten gehen soll. Selbst wenn der (Pflicht-)Beitrag bei den Erwerbstätigen zusammen mit den Krankenkassenbeiträgen eingezogen würde, blieben immer noch die Rentner und Empfänger von Arbeitslosen- und Sozialhilfe: Es sei schlicht nicht möglich, klagte der Vorstandsvorsitzende der AOK, Hans-Jürgen Ahrens, am Rande eines Seminars vergangene Woche im brandenburgischen Joachimstal, dass die Kassen jedem Rentner und Arbeitslosen hinterherlaufen, um einen entsprechenden Vertrag abzuschließen.
Neuralgische Zähne, schmerzempfindliche Politik
Die Zähne sind also weiterhin ein neuralgischer Punkt des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG), dessen zweite Stufe im Januar 2005 in Kraft treten soll. Nicht nur haben die Versicherten daran zu beißen, dass sie künftig alleine für Zahnersatzkosten aufkommen sollen. Bislang ist auch noch nicht ausgemacht, ob dies, wenn nur noch Festgeldzuschüsse bezahlt werden, am Ende nicht doch teurer wird als die bisherige Regelung. Mit Folgen für die derzeit erhofften Einspareffekte: Lange Warteschleifen in den Zahnarztpraxen künden davon, dass die Patienten noch kurz vor Toresschluss ihr Gebiss sanieren lassen.
Schmerzempfindlich reagiert jedoch auch die Politik. Da die Große-Gesundheits-Koalition im vergangenen Jahr mit dem Versprechen einherging, das System auf den Kopf (aller Bürger) zu stellen - sei es durch eine Bürgerversicherung oder eine Kopfpauschale -, steht sowohl die Regierungskoalition als auch die CDU/CSU unter Zugzwang. Nach dem im November 2003 mehrheitlich gefassten Beschluss der SPD zur Einführung einer Bürgerversicherung arbeitet eine Arbeitsgruppe derzeit unter Hochdruck an einer umsetzungsfähigen Variante des Modells, die bis September vorliegen soll. Es geht bekanntlich darum, die Gesundheitskosten auf alle Schultern zu verteilen, das heißt, neben den Arbeitseinkommen auch Kapital-, Miet- und andere Erträge in die Bemessung einzubeziehen, allerdings nicht von heute auf morgen, sondern "mit längeren Übergangszeiten", wie Juso-Chefin Andrea Nahles, Mitglied der Arbeitsgruppe, kürzlich versicherte.
Wie hoch die Bemessungsgrenzen dann sein werden, ist höchst umstritten. Derzeit liegt diese für Erwerbseinkommen bei maximal 3.487,50 Euro. Bis zu welcher Höhe andere Einkommensarten berücksichtigt werden, ob es für Arbeitseinkommen und andere Einkommen zwei verschiedene Bemessungsgrundlagen geben wird, um wohlhabendere Bürger stärker zur Kasse bitten zu können, welche Freigrenzen für Kleinsparer vorgesehen sind und viele andere Details sind noch nicht entschieden. Beim bündnisgrünen Koalitionspartner werden zudem Stimmen laut, die - entgegen der durch die gesundheitspolitische Sprecherin Biggi Bender vertretene Mehrheitsmeinung, die steigende Lohnnebenkosten fürchtet - dafür plädieren, die Bemessungsgrenzen auf das Niveau der Gesetzlichen Rentenversicherung - derzeit rund 5.100 Euro - anzuheben: aus Gerechtigkeitsgründen und um das System nachhaltig zu stabilisieren.
Gespenst Lohnnebenkosten
Die Lohnnebenkosten geistern als ewig wiederkehrendes Gespenst durch diese Debatte. Soll nach Einführung der Bürgerversicherung der Arbeitgeberanteil künftig ausbezahlt werden, um die Gesundheitskosten von den Arbeitskosten abzukoppeln? Gert Nachtigall, AOK-Vize und Vertreter der Arbeitgeberseite, hält dies für den falschen Weg, weil es zwischen "Gesundheitsbewusstsein und paritätischer Finanzierung einen Zusammenhang" gebe. Ob er sich mit seiner Position durchsetzen könne, wagte er allerdings nicht zu prophezeien, denn viele Unternehmen würden gerne aus der gemeinsam verantworteten Krankenversicherung aussteigen.
Noch in einer anderen Hinsicht würde die Bürgerversicherung das System der Krankenversicherungen umwälzen: Wenn alle erwachsenen Bürger die Gesundheitskosten finanzieren, macht eine Trennung zwischen Gesetzlicher und Privater Krankenkasse (GKV/PKV) keinen Sinn mehr, und das Gezerre um die "guten Risiken" - also um Versicherte, die einkommensstark, jung und gesund sind - hätte ein Ende. Unmissverständlich bekräftigte AOK-Chef Ahrens seine Haltung: Zukunft, ließ er wissen, habe die PKV "nur noch als Zusatzversicherung für medizinisch nicht notwendige Zusatzleistungen."
Das Gespenst steigender Lohnnebenkosten treibt derzeit auch CDU und CSU um und bringt sie in Clinch: Angela Merkel bekräftigte dieser Tage ihren Willen, das von der Herzog-Kommission vorgeschlagene Kopfpauschale-Modell durchzusetzen und damit die Gesundheitskosten "von den Arbeitskosten abzukoppeln". Alle würden dann eine einheitliche Gesundheitsprämie bezahlen, Versicherte mit niedrigen Einkommen sollen einen staatlichen Zuschuss erhalten. Einkünfte aus Kapital und Grundbesitz blieben außen vor, Arbeitgeber von künftigen Beitragserhöhungen verschont; und die Privaten Krankenversicherungen könnten weiterhin "gute Risiken" fischen. Die allgemeine Kopfpauschale wiederum geht der CSU, die am liebsten am hergebrachten System festhalten würde, zu weit; sie lehnt den sozialen Ausgleich aus Steuermitteln ab und denkt darüber nach, den Kreis der Beitragszahler etwa um nicht-erwerbstätige Ehefrauen zu erweitern - für die CSU ein erstaunlicher Vorstoß gegen die sakrosankte Einverdienerehe.
Ausschluss aus der Gesundheitsversorgung?
Im Windschatten dieser politischen Gewitterlage zeichnen sich derzeit die ersten Folgen des GMG ab: Zwar verzeichnen die Kassen im ersten Halbjahr 2004 die ersten Einspareffekte - wobei über die Höhe zwischen KBV und Gesundheitsministerium Uneinigkeit besteht, um sich am Ende den schwarzen Peter zuspielen zu können -, doch schon jetzt haben viele Patienten ihre persönliche Zuzahlungsgrenze erreicht und lassen sich freistellen: Von einem Ansturm auf die Kassen ist die Rede und von Patienten, die den Sachbearbeitern einfach ihre Schuhkartons mit Quittungen auf den Tisch stellen und die Zuzahlungsbefreiung verlangen.
Die mit der Praxisgebühr verbundenen Regelungen scheinen von den Versicherten dagegen akzeptiert worden zu sein. Nach einer repräsentativen Umfrage der AOK lassen sich über 80 Prozent der Patienten Überweisungen zum Facharzt ausstellen, und weniger als fünf Prozent zahlen die Praxisgebühr (mit Ausnahme beim Zahnarzt) mehrmals. Ob das von den großen Kassen noch in diesem Jahr in Aussicht gestellte Hausarztsystem, das perspektivisch die Praxisgebühr erledigen könnte, angenommen wird, bleibt abzuwarten; die Qualitätskriterien, die ein teilnehmender Hausarzt vorweisen soll, das offenbarte sich auch in der Diskussionsrunde in Brandenburg, sind von Kasse zu Kasse offenbar unterschiedlich - und insgesamt ziemlich niedrig angesetzt.
Alarmierend ist hingegen, dass Menschen mit niedrigem Einkommen eher bereit sind, auf einen Arztbesuch zu verzichten. So haben fast 20 Prozent der befragten AOK-Patienten, deren Einkommen unter 1.000 Euro liegt, im ersten Quartal 2004 wegen der Praxisgebühr den Arztbesuch verschoben (im Durchschnitt waren es rund elf Prozent, mit sinkender Tendenz bei steigendem Einkommen). Hier scheint sich zu bestätigen, was die internationale Gesundheitsforschung schon länger beobachtet: Eingangsgebühren erhöhen die Gefahr, dass sozial schwache Gruppen aus der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen werden (vgl. Freitag v. 6. 2. 2004). Auch deshalb spricht alles für ein nachhaltiges System, das auf die Köpfe aller Bürger und Bürgerinnen gestellt ist.
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