„Auf nichts verzichten“

Interview Der Soziologe Andreas Reckwitz kennt die jüngsten Verschiebungen in der Gesellschaft und in unseren Köpfen
Ausgabe 51/2019

Nur selten werden soziologische Begriffe zu Schlagworten in öffentlichen Debatten. Andreas Reckwitz’ Formel von einer „Gesellschaft der Singularitäten“ gelang das. Mit Das Ende der Illusionen. (Suhrkamp 2019) knüpft der Soziologe an seine Arbeit zum Strukturwandel der Moderne an.

der Freitag: Herr Reckwitz, kürzlich ging eine Meldung durch die Presse, nach der Audi 9.500 Stellen streichen will, während etwa in der E-Mobilität 2.000 Stellen geschaffen werden sollen. Lässt sich aus dieser Nachricht nicht eine ganze Sozialanalyse des Postindustrialismus ableiten?

Andreas Reckwitz: Bei dieser Nachricht handelt es sich nur um einen Mosaikstein eines bereits seit Jahrzehnten andauernden Umstrukturierungsprozesses der westlichen Ökonomie. Wir erleben den Wandel von einer klassischen Industrieökonomie hin zu einem kognitiven und kulturellen Kapitalismus, ein Prozess, der bereits in den 1970er Jahren begonnen hat. Zwar ist die hiesige Automobilindustrie im Vergleich zu anderen westlichen Ländern noch recht stark. Der Anteil der Industriearbeit unter allen Erwerbstätigen ist aber auch in Deutschland von 50 auf 24 Prozent gesunken. Konzerne wie Audi holen nun nur nach, was anderswo im Westen schon vollzogen ist: Klassische Routinetätigkeiten in der Fertigung fallen weg, der Facharbeiter verschwindet immer mehr. Auf der anderen Seite entstehen neue hoch qualifizierte Tätigkeiten etwa in der Forschung und Entwicklung oder im Marketing. Auch in einem materiellen Gut wie etwa einem Auto steckt immer mehr Wissensarbeit als körperliche Arbeit. Das ist typisch für den kognitiv-kulturellen Kapitalismus und wirkt sich auf die Sozialstruktur aus.

Inwiefern?

Die Postindustrialisierung der Ökonomie hat widersprüchliche Effekte: Wir haben es heute auf der einen Seite mit einer expandierenden hoch qualifizierten neuen Mittelklasse zu tun, Wissensarbeitern im weitesten Sinne, häufig Akademiker, von der Bildung und Forschung über Recht und Medizin bis zur Digital- oder Kreativökonomie. Auf der anderen Seite ist jedoch auch der Bereich der sogenannten Dienstleistungen expandiert, häufig im Niedriglohnsektor von Dienstleistenden, es ist also eine neue prekäre Klasse entstanden. Das Segment der klassischen Routinetätigkeiten in der Industrie und Verwaltung, der Ort der traditionellen Mittelklasse, schrumpft dagegen. Die neue, gut ausgebildete Mittelklasse weiß sich einig mit dem Modernisierungsprozess, während die prekäre Unterklasse auf der Verliererseite steht und die traditionelle Mittelklasse an gesellschaftlichem Einfluss verloren hat.

Alle, sogar die AfD, wollen in die Mitte und in der Mitte andocken. Aber gibt es diese Mitte, so wie wir sie kennen, überhaupt noch?

Die Mitte ist eine sehr suggestive Metapher, die das soziale und kulturelle Zentrum der Gesellschaft im Unterschied zu ihren Rändern markieren soll. Aber Sie haben recht, der Mythos der Mittelklasse ist überraschend ungebrochen, alle bekennen sich zur Mitte, gleichzeitig handelt es sich aber um eine kognitive Dissonanz. Das Selbstbild hängt immer noch an den alten Vorstellungen von Mitte, aber diese Mitte gibt es gar nicht mehr, sie ist auch sozialstrukturell gespalten: in die neue und die alte Mittelklasse. Im Zentrum der Gesellschaft findet sich nicht mehr die imaginäre Mitte, sondern der Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen.

Sie sprechen von Klasse – aber nicht unbedingt in marxistischem Sinn?

Ich rede tatsächlich nicht von Schicht oder Milieu, weil diese Begriffe zu schwach sind. Der Begriff Schicht blendet aus, dass sich die sozialen Gruppen kulturell deutlich voneinander unterscheiden. Von der Milieuforschung kann man zwar viel lernen, sie vernachlässigt aber die ungleichen Ressourcenverteilungen und die Machtdifferenzen. Klasse beinhaltet nun eine bestimmte kulturelle Lebensform, eine bestimmte Situierung im Arbeitsprozess und in Bezug auf die Ressourcenverteilung - wobei die Ressource Bildung immer wichtiger wird - und schließlich einen bestimmten Ort in einem gesellschaftlichen System von Status, Macht und Einfluss.

Der Bildungsvorsprung verschafft der neuen Mittelklasse also eine bessere Ausgangsposition im Wettbewerb. Aber wie drückt sich diese Konkurrenz ansonsten aus, wo liegen die Unterschiede? Ich kann nicht erkennen, dass die alte Mittelklasse insgesamt abstiegsgefährdet wäre, wenn wir etwa an Handwerker denken.

Das Interessante ist, dass sich der materielle Lebensstandard und das kulturelle Lebensgefühl teilweise voneinander entkoppelt haben. Zwischen der neuen und der alten Mittelklasse unterscheiden sich die kulturellen Werte deutlich: Die alte Mittelklasse kultiviert Werte wie Selbstdisziplin und Pflichtbewusstsein, sie lebt überdurchschnittlich in kleinstädtischen Regionen. Die neue Mittelklasse ist dagegen kosmopolitisch geprägt. Ihr geht es um mehr als nur materiellen Erfolg, sie will sich auch entfalten im Beruf, im familiären Bereich, in der Freizeit. Sie lebt vorrangig in den Metropolen und gibt den Ton an in Bezug auf die gesellschaftlichen Leitwerte wie Flexibilität, Mobilität oder lebenslanges Lernen, aber auch Alltagswerte wie hohes Gesundheitsbewusstsein oder kulturelle Diversität. Allgemein gesprochen könnte man sagen, die neue Mittelklasse vertritt Werte der Entgrenzung, die alte Werte der Verwurzelung. Die traditionelle Mittelklasse verliert damit kulturell an Einfluss, Prestige und Zufriedenheit: Die kleinstädtischen Regionen sind vom Braindrain bedroht, mittlere Bildungs- und Berufsabschlüsse verlieren angesichts der Akademisierung an Nimbus, und die gesellschaftlichen Leitwerte haben sich insgesamt verschoben.

Das heißt, die alte Mittelklasse hat ihre Deutungshoheit verloren?

So könnte man es sagen. Seit den 1990er Jahren geriet sie auch öffentlich immer mehr in den Windschatten der Aufmerksamkeit, sie ist symbolisch in die Defensive geraten ist, das zeigt sich auch an ihrem schwindenden Einfluss in den Parteien.

Lebensform und Lebensstil der neuen Mittelklasse sind stark mit einem Konzept der Selbstverwirklichung verbunden. Ich dachte immer, das sei ein Projekt unserer Subkultur der 70er und 80er gewesen.

Hier hat sich eine bemerkenswerte Umkehrung vollzogen: Ein ehemaliges subkulturelles Muster ist Mainstream geworden. Was subkulturell eine Chance war, die man sich erkämpft hat, hat sich nun in eine soziale Norm, ja eine Art Zwang zur Selbstentfaltung gewandelt. Das ursprünglich romantische, gegenkulturelle Konzept wird verbunden mit dem traditionellen, bürgerlichen Muster sozialen Reüssierens, was ja eigentlich paradox ist: also Romantik und Bürgerlichkeit zugleich. Zudem lebt Selbstverwirklichung heutzutage auch sehr stark von der Perfomativität, ich verwirkliche mich nicht nur um meiner selbst willen, sondern es wird nach außen dargestellt, wird zum Qualitätsbeweis des Subjekts.

Zur Person

Andreas Reckwitz, 49, lehrt Vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2017 erschien Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 2019 Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne (beide Suhrkamp) Seit diesem Jahr ist Reckwitz Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preisträger

Zum Beispiel?

Gut festmachen lässt sich das am Reisen: Der Selbstentfaltungswunsch zu reisen, bedeutet zunächst einmal, Neues erfahren zu wollen. Aber nun unternimmt man die Reise auch, um das interessante Leben gegenüber anderen zu präsentieren. Die sozialen Medien sind dafür die prädestinierte Plattform. Man wird dann vorgeblich einer besonderen Person mit authentischen, singulären Erlebnissen.

Das kritische Element, das dem Selbstverwirklichungskonzept einmal eingeschrieben war, ist nun also Teil des individuellen und kapitalistischen Neomanagements geworden?

Es ist zu einer gesellschaftlichen Norm geworden, die institutionell auch entsprechend forciert wird: Von einem Konsumentenkapitalismus, der ja ein genuss- und erlebnishungriges Individuum voraussetzt, auch von psychologischen und pädagogischen Ratgebern - und auch die digitalen Medien mit ihrer Aufmerksamkeitsökonomie verstärken diesen Prozess.

Das geht bis in den existentiellen Bereich. Mir fällt das immer auf, wenn vom Kinderwunsch die Rede ist, der um jeden reproduktionstechnologischen Preis realisiert werden muss, weil sonst das umfassend gedachte Lebenskonzept zu scheitern droht.

Da hat sich in den letzten 15 Jahren tatsächlich etwas verändert. Bis in die 90er war das für heterosexuelle Paare durchaus eine offene Frage. Mittlerweile scheint es eher so, als ob Kinder ein Must-have sind. Ich vermute, dass dies stark mit dem Ideal von der größtmöglichen Fülle des Lebens zusammenhängt, die auch ausgeschöpft werden muss. Es soll auf nichts verzichtet werden, man hat ein Recht darauf.

Ist das nicht auch ziemlich anstrengend?

Zweifellos. Ich würde auch die stärkere Verbreitung von psychischen Symptomen der Überforderung mit diesen neuen Leistungszwängen der „größtmöglichen Fülle“ in Zusammenhang bringen.

Wie erleben die Vertreter der anderen Seite der neuen Klassenhierarchie, die der niederqualifizierten „service class“, den gesellschaftlichen Strukturwandel?

Die körperliche Arbeit hat im Vergleich zur Wissensarbeit in der postindustriellen Gesellschaft sehr stark an Prestige verloren. Der Deal der alten Industriegesellschaft, schwere körperliche Arbeit materiell zu entschädigen und damit anzuerkennen ...

... die sogenannte Dreckzulage ...

... wurde aufgekündigt. Statusinvestition, die ja auch eine gewisse Planbarkeit voraussetzt, ist daher hier nicht mehr realistisch. Aufstiegshoffnungen wie in der einstigen Arbeiterklasse sind obsolet. Das Gesellschaftsbild ist daher häufig eher defätistisch.

Es gibt in diesem Bereich aber auch Tätigkeiten, die unverzichtbar und nicht rationalisierbar sind wie Pflege- und Betreuungsdienstleistungen, aber einen starken affektiven Kern haben. Doch auch deren Prestige ist gering. Wäre da ein Widerstandsansatz für die prekäre Klasse?

Man kann sich in der Tat fragen, wie es weitergeht mit dieser Dreiklassengesellschaft. Es gibt ja durchaus Tendenzen, dass die bisher eher entwertete Arbeit wieder aufgewertet wird, vor allem, weil Arbeitskräfte knapp sind. Die Pflegeoffensive ist dafür ein gutes Beispiel. Aber der affektive Kern, von dem Sie sprechen, kann auch hinderlich sein, weil das berufliche Selbstverständnis gerade im pflegerischen Bereich ein anderes ist als etwa auf dem Bau. Neben anderem führt es dazu, dass die Interessensvertretungen in diesem Bereich sehr schwach sind. Es ist aber durchaus denkbar, dass sich die gesellschaftlichen Bewertungssysteme ändern, dass künftig nicht mehr nur die singuläre, nicht austauschbare Wissensarbeit hohes Ansehen genießt. Das Anerkennungssystem müsste sich dafür vom Besonderen zum Allgemeinen verschieben.

Sie beschreiben in Ihrem Buch ein Phasenmodell des Liberalismus, das zwischen Regulierung, wie wir sie in der Nachkriegszeit erlebt haben, und Dynamisierung und Öffnung im Neoliberalismus pendelt. Die Phase des Neoliberalismus sehen Sie am Ende. Wie geht es weiter?

Der Dynamisierungsliberalismus ist in den vergangenen Jahren in eine grundsätzliche Krise geraten. Jetzt stehen wieder Regulierungsprozesse an im Hinblick auf soziale Ungleichheit und Infrastruktur, aber auch kulturell in Fragen des Gemeinwohls. Der Populismus bedient diese Regulierungsbedürfnisse in mancher Hinsicht sehr geschickt, aber eben in Form der antiliberalen Schließung, mit einer protektionistischen Wirtschaft à la Trump und einer homogenen Nationalkultur. Wenn der Liberalismus sich dagegen behaupten will, muss er selbst regulativer werden, eine Art einbettender Liberalismus, der die Dynamisierungsgewinne der Globalisierung und der kulturellen Heterogenität bewahrt, aber neu reguliert.

Sie schreiben, der Populismus sei eher Symptom als Lösung. Unterschätzten Sie ihn da nicht? Die Krise des Liberalismus hat in der Vergangenheit ja auch zu autoritären Lösungen geführt.

Der Populismus ist definitiv nicht zu unterschätzen. Aber ich denke und hoffe, dass mittelfristig ein erneuerter, progressiver Liberalismus die Oberhand gewinnen wird. Politische Paradigmen in der Vergangenheit waren erfolgreich, wenn sie integrativ gewirkt haben und in ihrem Problembewusstsein auf der Höhe der Zeit. Der Populismus lebt aber von Freund-Feind-Konstellationen und schließt quasi die Hälfte der Gesellschaft aus. Und er pflegt eine reaktionäre Nostalgie, die mit den Fakten der Globalisierung, der Postindustrialisierung und der kulturellen Diversität auf Kriegsfuß steht. Ein erneuerter Liberalismus geht gerade von diesen Strukturmerkmalen aus, aber müsste sie stärker gestalten, als einfach geschehen zu lassen: Das betrifft eine stärkere ökonomische Regulierung – von der Infrastruktur bis zur Entprekarisierung –, aber auch eine kulturelle Ordnungsbildung.

Sie nennen das eine Gesellschaft der Reziprozität?

Eine Kultur der Reziprozität, des Gebens und Nehmens, des Zusammenlebens mit kollektiv geteilten Grundwerten – trotz aller kultureller Differenzen –, müsste in jedem Fall ein Bestandteil einer solchen Politik sein. Es müsste darum gehen, dass Individuen mehr als nur egoistische Marktteilnehmer und mehr als nur Vertreter ihrer subjektiven Rechte sind, wie es der Dynamisierungsliberalismus vertreten hat. Sie müssen sich vielmehr als Akteure eines politischen Gemeinwesens begreifen, in dem es um eine gemeinsame Sache geht. Das lässt sich natürlich nicht einfach staatlich planen, aber ich denke, dass etwa die Fridays-for-Future-Demonstrationen ein Zeichen dafür sind, dass in der jüngeren Generation ein solcher Bewusstseinswandel im Gange ist.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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