Auf Wolke 7

BERLINER ABENDE "Meine sehr geehrten Damen und Herren, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass uns die Flugsicherung in Frankfurt noch immer keine ...

"Meine sehr geehrten Damen und Herren, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass uns die Flugsicherung in Frankfurt noch immer keine Starterlaubnis gegeben hat." Die berufsmäßig freundliche Stimme des Flugkapitäns wird jäh unterbrochen von infernalischem Kindergeschrei ...

Seit einer Stunde sitzen wir eingekeilt zwischen Le Monde und der Welt, doch dieser Vogel kriegt den Hintern nicht hoch, klebt wie die elefantenverschlingende Boa des kleinen Prinzen auf dem Aeroport Saint-Exupéry zu Lyon. Nein, kein Nachtflug, ein Morgenflug auf "Wolke 7" hatte das werden sollen. Mittlerweile ist es zwölf Uhr mittags.

"Wolke 7" steht in unseren Billets. Französischer Urlaubstarif über den Wolken. Dickneblig hatte auch der Tag begonnen, als wir schlaftrunken aus unserer Absteige wankten. "Hôtel du Commerce" und das Gefühl, in einen uralten film noir geraten zu sein. Ausgediente Sprungfedern und ein privatim praktizierender Muezzin erinnerten eine nicht enden wollende Nacht lang daran, dass in diesem laizistischen Land jeder seiner Privatreligion frönt.

"Gerade eben", meldet sich der Pilot zurück, "erhalten wir ein Fax, dass ein Computer-Chaos in Frankfurt unseren Start verzögert." Flugtechnisches Computerchaos, sinniere ich, derweil ich in der Zeitung eine Nachricht lese, dass es zwei amerikanischen Wissenschaftlern gelungen ist, kleine Robotniks zu schaffen, die sich selbständig vermehren und nun lustig durchs Internet wuseln.

Um 12 Uhr 15 heben wir vom Boden ab, in mäßig schwerem Wetter. Seit sechs Uhr sind wir auf den Beinen und haben außer reichlich von der Lufthansa spendiertem Kaffee noch nichts in den Magen bekommen. Eine sinnreiche Sparmaßnahme, wie sich im Tagesverlauf noch zeigen soll.

Natürlich verpassen wir in Frankfurt unseren Anschluss und müssen umbuchen. Auf dem Rhein-Main-Flughafen hat das virtuelle Chaos leibliche Substanz. Hier sammelt sich der Rückstau einer offenbar globalen Warteschleife. Eine halbe Stunde dauert es, bis wir überhaupt den neuen Flugsteig finden, und dort beschert sich die Lage als hoffnungslos.

"Tut mir leid", stammelt die Dame am Abfertigungsschalter, nachdem wir uns zentimeterweise vorgerobbt haben, "ich kann Sie nur auf die Warteliste setzen." Für welchen Flug ist nicht ganz klar, denn die Maschine, die um halb drei starten sollte, ist noch nicht geräumt. Das Bodenpersonal ist sichtlich überfordert. Uns wird bedeutet, uns nicht zu entfernen, bis wir namentlich aufgerufen werden. Über Gepäckstücke stolpernd suchen wir vergeblich einen funktionierenden Kaffeeautomaten. Die Toiletten im Umkreis sind gesperrt. Unter der Sommerbräune zieht langsam die Entkräftungsblässe herauf. Da uns nicht einmal mitgeteilt werden kann, welche Wartenummer wir haben, sind Planungen zwecklos.

Um 15 Uhr 30 schließlich der Aufruf. Wir wanken zum Schalter, angespannt, es ist wie in einer Lotterie. Nach zähen Minuten endlich die verzerrten Bruchstücke meines Namens. Geduldig warten wir mit den anderen Glücklichen auf die Bordkarte für den Flug LH 2412. Endlich, endlich schieben wir uns voran, in einen langen, niedrigen, an Umkleidekabinen erinnernden Gang zum Bus.

Doch auch diesmal hat offensichtlich die Logistik versagt, wir werden zurückgedrängt, erbarmungslos eingeschlossen. Frachtgut. Leiber aneinander gepresst, Koffer in Kniekehlen gerammt, es gibt kein Vorwärts und Rückwärts. Die Luft ist unerträglich, Wolke 7 als Stickstoffbombe. Wenn hier einer ausflippt, bricht das Chaos aus. Eine Japanerin zückt ihren Fächer, blickt ergeben freundlich.

Wieder unendliche Ungewissheit, irgendwann Erlösung und breiter Protest unter den Passagieren. "Det jarantiere ick, die Lufthansa hört von mia. Noch heute schreib' ick denen. Det jibt mindestens 'n Freifluch." Eine Dame, die gestern Abend in Denver gestartet ist, macht sich lauthals Luft. Wir starren uns an: Ausgerechnet Freiflug!

Gegen 16.30 startet der Airbus. Wir sind seit genau zwölf Stunden unterwegs. Auf dem Inlandflug keine Hoffnung auf einen Snack. Über Frankfurt liegt ein schweres Gewitter. Gerade haben wir die endgültige Flughöhe erreicht, als es grell aufblitzt. Die linke Tragfläche ist einen Moment erleuchtet, Blitz auf Metall.. Das Flugzeug schwankt, sackt ein wenig ab. Wie gelähmt schauen wir aus dem Fenster. Der Passagier neben mir schließt die Augen. Das kann doch nicht wahr sein!

Zehn Minuten nichts. Dann aus dem Cockpit ein launiger Co-Pilot, der über die Sicherheit Faradayscher Käfige schwadroniert. Seine Stimme, scheint uns, schwankt. Plötzlich muss ich an die kleinen Wuselwesen aus dem Hause Pollock/Lipson denken, die sich intelligent vernetzen, selbständig machen und die Kontrolle über das Flugzeug übernehmen ...

Auf Wolke 7 sind wir in diesen Urlaub gestartet. Nie war ich erleichterter, auf dem Boden der Tatsachen zu landen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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