Aufbegehren gegen Gewalt an Frauen

Frauensache Der Mord an einer Frau in Berlin bewegt ihren Kiez. Aber Sprechen über Gewalt in der Ehe ist nur ein Teil der Lösung. Migrantinnen brauchen auch ein eigenes Bleiberecht
Aufbegehren gegen Gewalt an Frauen

Illustration: Otto

Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen, hieß ein 1978 entstandener Film, der ein Tabu brach, indem er seelische und körperliche Gewalt gegen Frauen öffentlich machte. Zwei Jahre zuvor war in Deutschland das erste autonome Frauenhaus eingerichtet worden. Doch weder Gesetze noch Hilfseinrichtungen konnten verhindern, was sich Anfang Juni in der in Berlin-Kreuzberg gelegenen Köthener Straße, nahe dem Potsdamer Platz, ereignete: In einem Akt beispielloser Brutalität wurde Semanur S. von ihrem Ehemann Orhan getötet und enthauptet. Semanur S. hinterlässt sechs Kinder.

Auch wenn davon ausgegangen wird, dass der Täter schizophren und nur eingeschränkt schuldfähig ist, hat die Bluttat die im Kiez lebenden Migrantinnen und Migranten in Bewegung gebracht. „Gewalt darf keine Lösung sein“, erklärte stellvertretend die türkische Vätergruppe des Vereins Aufbruch Neukölln, die spontan eine Kundgebung organisierte. Viele andere Migrantenorganisationen haben sich angeschlossen.

Das ist gut so. Aber es genügt nicht. Semanur S. gehört zu den Frauen, die durch eine Zwangsverheiratung aus einem anatolischen Dorf nach Deutschland kamen. Ohne Ausbildung und mit ihren sechs Kindern sah sie keine andere Chance als bei ihrem gewalttätigen Ehemann zu bleiben. Die im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Deutschland gekommenen Frauen haben es besonders schwer, weil ihr Aufenthaltsrecht an den Ehemann gebunden ist. Verlassen sie ihn, droht ihnen Abschiebung. Seit Jahren fordern Menschenrechtsorganisationen deshalb ein Bleiberecht für von Menschenhandel oder Gewalt betroffene Migrantinnen.

Andererseits wehren sich die Migrantenvereine gegen eine öffentliche Wahrnehmung, die häusliche Gewalt kulturspezifisch erklärt und Übergriffe gegen Frauen nur auf traditionelle Rechtsauffassungen zurückführt. Als die Frauen in den siebziger Jahren ihr Schweigen brachen, entdeckten sie überrascht, dass sich häusliche Gewalt in allen Gesellschaftskreisen ereignete. Mit dem Sprechen darüber verloren sie die Scham, die eigentlich den Tätern gebührt.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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