Auftrag

Zeugnis ablegen In Berlin wurde die Inge-Deutschkron-Stiftung gegründet

Der Abend begann mit einem Versprecher. Unüberhörbar verhaspelte sich der Berliner Regierende Klaus Wowereit bei seiner Begrüßung der "lieben Inge" und ihrer Gäste beim Wort Pogrom, als sei die Erinnerung an den 9. November 1938, die so genannte Reichskristallnacht, zu schmerzhaft und einer der Stolpersteine, die mittlerweile überall in Berlin an die verschleppten und ermordeten jüdischen Mitbürger gemahnen.

Eine der Überlebenden dieser Zeit ist Inge Deutschkron, in deren Namen am vergangenen Freitag eine Stiftung ins Leben gerufen wurde, die nicht nur das Lebenswerk der Journalistin und Schriftstellerin erhalten, sondern auch Einrichtungen fördern soll, die wie das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt oder das Berliner Grips-Theater viel dazu beitragen, junge Menschen aufzuklären und ihr Wegdriften "in Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Rassenwahn" zu verhindern, wie es in den Richtlinien heißt.

Otto Weidt und seiner Blindenwerkstatt verdankt sie ihr Leben. Dort arbeitete Inge Deutschkron zusammen mit ihrer Mutter und anderen Versteckten zwischen 1941und 1943, bis sie schließlich als Illegale untertauchte. Nach dem Krieg bereiste sie Asien, in den fünfziger Jahren pendelte sie als Korrespondentin zwischen Israel und Deutschland, mittlerweile lebt Deutschkron wieder fest in Berlin. Ihre Geschichte hat sie in mehreren Büchern (unter anderem in Ich trug den gelben Stern) erzählt. Eine ihrer frühesten Erinnerungen, berichtet die 1922 Geborene an diesem Abend, seien Männer, die auf der Straße mit Messern und Schlagstöcken aufeinander losgegangen seien und ihr Vater, ein engagierter sozialdemokratischer Lokalpatriot, ihr das versuchte zu erklären. Erklären, Zeugnis ablegen, das ist zu ihrer Lebensaufgabe geworden.

Wie schwer sich Deutschland mit der Erinnerung in den vergangenen sechs Jahrzehnten getan hat, ließ der Zeithistoriker Norbert Frei in seinem Festvortrag Revue passieren und machte darauf aufmerksam, dass diese Phase mittlerweile fünf Mal so lange dauert, wie der Nationalsozialismus selbst und kein Ende abzusehen ist. Der Säuberung der Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit folgte eine lange Phase der "Vergangenheitspolitik", die unter dem Stichwort "Schlussstrich" eine weitgehende Amnestierung der Täter durchsetzte und ihr kaum verhülltes Ressentiment gegenüber der "Siegerjustiz" pflegte. In dieser Zeit kam Inge Deutschkron nach Deutschland zurück und erlebte hautnah die deutsche Schuldverweigerung.

Mit dem in den sechziger Jahren eingeleiteten Frankfurter Auschwitz-Prozess, den die Reporterin für die israelische Tageszeitung Maariv verfolgte, begann das, was damals als "Vergangenheitsbewältigung" gehandelt wurde und die "Funktionsgeneration" sich plötzlich den Fragen der Jüngeren stellen musste. Abgelöst wurde die wütende Empörung der Achtundsechziger, die nicht frei war von Antisemitismus - in der DDR ging die Aufarbeitung der Vergangenheit andere und kompliziertere Wege als im Westen -, von der Betroffenheitskultur der achtziger Jahre mit dem medialen Aufstieg des Holocaust, um schließlich der heutigen Gedenkkultur Platz zu machen. Dabei sei, so Frei, "die Arena der widerstreitenden Erinnerungen gerade erst eröffnet". Sie spannt sich auf zwischen den "Gruselgrüßen der Populärkultur" (Hitler-Filme) und dem still gestellten Gedenken in Form von Denkmälern und Mahnmalen.

Was ihr zu tun verblieb, schreibt Hannah Arendt in ihrem schönen Buch über Rahel Levin-Varnhagen, war "ein ›Sprachrohr‹ des Geschehenen zu werden" und "das Geschehene in ein Gesagtes umzuwandeln". Mehr als jedes Denkmal lebt die Erinnerung von diesem Gesagten, das zur Verpflichtung wird. Inge Deutschkron hat diesen Auftrag angenommen und ihre Stiftung wird dafür sorgen, dass ihn andere weiterführen können.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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