Ein großes Plakat, darauf rot durchgestrichen: § 219. Es schwebte über der Gruppe von Frauen und Männern, die an einem kalten Dienstagmorgen Mitte Dezember eine Petition mit über 150.000 Unterschriften an Bundestagsabgeordnete von SPD, FDP, Grünen und Linkspartei übergaben – die Vertreterinnen der Union hatten sich rargemacht. Die Unterzeichnenden fordern darin die Abschaffung eines Gesetzes, das den Nazis einmal dazu diente, sozialistische oder liberale Ärzte und Ärztinnen, die sich für sexuelle Aufklärung und Selbstbestimmung einsetzten, zu verfolgen und mit Berufsverbot zu belegen. Nach § 219 StGB macht sich nämlich strafbar, wer um des eigenen Vorteils willen „öffentlich eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekannt gibt“.
Den in dieser Allgemeinheit gefassten Straftatbestand erfüllen im Prinzip alle Ärzte, die in irgendeiner Form bekannt geben, dass sie Frauen, die sich nicht in der Lage sehen, ein Kind zu bekommen, bei einer Abtreibung unterstützen. So ging es auch der Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel, die im November vom Amtsgericht Gießen zu 6.000 Euro Strafe verurteilt worden war, weil sie auf ihrer Praxishomepage über Schwangerschaftsabbrüche informiert hatte. Die Ärztin, die bei Pro Familia tätig war und ein Familienplanungszentrum gegründet hat, in dem auch Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden, gilt nun als vorbestraft und fürchtet um ihre berufliche Zukunft.
Mit dem Urteil folgte das Gericht der Staatsanwaltschaft, die aufgrund einer Anzeige des bekannten selbsternannten Lebensschützers Klaus Günter Annen tätig geworden war. Auf der von Annen unterhaltenen einschlägigen Webseite babycaust.de tribunalisiert er, geordnet nach Postleitzahlen, nicht nur Ärzte und Ärztinnen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Als Chef der „Initiative Nie Wieder!“ organisiert er auch sogenannte Mahnwachen vor Kliniken und gynäkologischen Praxen, um Ärzte, Mitarbeiter und Frauen einzuschüchtern. Vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat sich Annen sein Treiben als Akt der freien Meinungsäußerung bestätigen lassen.
Doppeltes Rechtsparadox
Kein Prozess rund um Abtreibungen hat nach dem legendären Urteil gegen den Memminger Gynäkologen Horst Theissen, der im Jahre 1989 wegen illegaler Abtreibung verurteilt worden war und seine Approbation verlor, die Öffentlichkeit so beschäftigt wie jetzt die Causa Hänel. Denn das, was die Ärztin in ihrer Praxis anbietet, wird zwar, soweit sich die Frauen haben beraten lassen, nicht bestraft. Aber sie darf ihre Leistung, wenn man § 219 ernst nimmt, nicht öffentlich anbieten oder darüber informieren. Weil sie mit ihrer Praxis ja auch wirtschaftliche Ziele verfolgt, fällt das unter das Werbeverbot. Inzwischen hat sie ihre Homepage so verändert, dass das Informationsmaterial nur noch individuell angefordert werden kann.
Der Fall Hänel und ihre Verurteilung erinnern an das, was in den letzten 25 Jahren völlig aus dem Blickfeld geraten ist: das Recht auf Abtreibung. Vor noch nicht einmal einer Generation war der Begriff Abtreibung in aller Munde. Kurz nach der Wende (wieder) auf die Agenda gesetzt, weil das liberalere ostdeutsche Abtreibungsrecht an westdeutsche Verhältnisse „angeglichen“ werden sollte, war der § 218 eine Art Lackmustest für den Umgang des damals metaphorisch so genannten Bräutigams aus dem Westen mit seiner „heimgeführten“ ostdeutschen Braut.
Da es schon nicht gelungen war, eine gesamtdeutsche Verfassung auf den Weg zu bringen, die Elemente guter sozialer Wirklichkeit im Osten hätte retten können, sollte zumindest die im Staatsvertrag interimistisch geltende Fristenregelung auf Gesamtdeutschland ausgedehnt werden. Doch der interfraktionelle Kompromissentwurf – damals ein Novum in der deutschen Politik –, der zumindest anerkannte, dass Abtreibung innerhalb einer Frist von drei Monaten nach verpflichtender Beratung nicht rechtswidrig ist, wurde nach der bayrischen Normenkontrollklage 1993 vom Verfassungsgericht kassiert.
Seither leben Frauen, die eine Schwangerschaft unterbrechen wollen, und Ärzte, die den Eingriff vornehmen, mit einem doppelten Paradox. Denn die Karlsruher Richter erklärten Abtreibung weiterhin für rechtswidrig, doch Ärzte und Frauen sind bei Erfüllung bestimmter Auflagen straffrei gestellt. Das war in der deutschen Verfassungswirklichkeit bis dahin singulär. Auch im Hinblick auf die Beratung versuchte man die Quadratur des Kreises: Sie sollte „zielorientiert“ sein und die Schwangere zur Austragung ihres Kindes „ermutigen“, gleichzeitig aber „ergebnisoffen“ gestaltet werden. Die als Zumutung empfundene „Zwangsberatung“ erboste damals nicht nur Feministinnen. Das Bundesverfassungsgericht jedenfalls schuf die Rahmenbedingungen, durch die die „unkontrollierten Entscheidungen der Schwangeren“, wie es ein Unionspolitiker damals formulierte, im Spannungsfeld von Kostenerwägungen einerseits und künftigen reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten andererseits beeinflusst werden sollten.
Dieser juristische Seiltanz führte zunächst zu einem ziemlichen Chaos, denn aufgrund der Bestimmung, dass Abtreibung rechtswidrig sei, kam die Krankenkasse nicht mehr für die Kosten auf. Und jedes der 16 Bundesländer verfolgte sowohl hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs als auch bei der Beratung eine völlig andere Praxis. Deutschland präsentierte sich in dieser Hinsicht auf Jahre hinaus als kaum überschaubarer Flickenteppich, und das böse Wort vom innerdeutschen Abtreibungstourismus machte die Runde.
Die Gegner marschieren
Trotz allem hat das noch bis Ende der 90er Jahre andauernde juristische Gezerre für einen gewissen sozialen Frieden an der Abtreibungs-„Front“ gesorgt. Auch wenn es bis heute noch nicht überall unabhängige Beratungsstellen gibt und das kirchliche Beratungsmonopol nicht gänzlich gebrochen ist. Auch wenn das damals flankierend fixierte Recht auf einen Kitaplatz nicht für alle Kinder realisiert werden konnte und Verhütungsmittel immer noch selbst bezahlt werden müssen: Die jungen Frauen heute wissen, dass sie nicht mehr um jeden Preis ein Kind bekommen und zur Abtreibung auch nicht mehr nach Holland fahren müssen. Wenn es darauf ankommt, finden sie – dank Ärztinnen wie Kristina Hänel – Hilfe. Dass die trotz „Zwangsberatung“ gängige Fristenregelung zu kontinuierlich weniger Abtreibungen führt – von über 130.000 im Jahre 1996 auf heute unter 100.000 –, dürfte vor allem daran liegen, dass Mädchen früher und besser aufgeklärt werden. Wenn „es“ aber doch passiert, das gab Hänel kürzlich in einem Interview zu bedenken, suchen sie die Schuld wieder eher bei sich selbst. Ungewollte Schwangerschaft, sagt sie, werde nicht mehr als gesellschaftliches, sondern als individuelles Problem gesehen.
Das wiederum ist ein politisches Problem. Denn das Lager der dezidiert frauenfeindlichen Abtreibungsgegner wächst seit Jahren, wie unter anderem und besonders sichtbar der Zulauf beim alljährlich stattfindenden „Marsch für das Leben“ zeigt. Die Frauen dagegen scheinen sich gut eingerichtet zu haben in dem zum Kompromiss erklärten „weichen“ Abtreibungsverbot, dessen strafrechtliche Relevanz erst deutlich wird in Fällen wie dem der Gießener Ärztin. Sie sind selten, weil die meisten Staatsanwaltschaften die politisch gezielt getätigten Anzeigen nicht verfolgen, doch jeder einzelne Fall führt vor, dass sich Frauen in einer falschen Sicherheit wiegen.
Ein Erbe des Nazistaats
Gleichzeitig ist die Gemengelage inzwischen viel komplizierter geworden als in den 70er Jahren, als Frauen noch ohne Umstände das Verfügungsrecht über ihren Bauch erklären konnten. Denn zum einen kann das, was da in ihrem Bauch wächst, inzwischen auch außerhalb oder im Leib einer anderen Frau gedeihen, und das schürt Begehrlichkeiten Dritter, entweder von kinderlosen Wunscheltern oder von Dienstleistern, die daran verdienen wollen. Zum anderen – das zeigen die Aussetzung des Familiennachzugs von Flüchtlingen, der Umgang mit Kindern aus Hartz-IV-Familien oder der vielleicht bald von der Krankenkasse bezahlte Bluttest zur Auswahl von Embryonen – sind hierzulande beileibe nicht alle Kinder erwünscht, sondern nur ganz bestimmte.
Einfache und anschlussfähige Parolen wie das berühmte „Mein Bauch gehört mir“ sind da nicht mehr einfach zu kreieren, ohne falsch zu wirken. Genau dieses Feld besetzen die Abtreibungsgegner mit ihren schrecklichen Bildern von Föten und ihren noch schrecklicheren Begriffen wie „Babycaust“, den Hänel als Unwort des Jahres vorgeschlagen hat.
Doch wie sinnvoll reagieren?
Inzwischen zeichnet sich ab, dass sich im Bundestag eine Mehrheit von Abgeordneten zusammenfinden könnte, die zumindest den § 219 streichen will. Selbst die FDP-Frauen sind noch schnell auf den fahrenden Zug aufgesprungen. Nur die Union will an dem 1933 initiierten Gesetz festhalten, weil sie sich um den Schutz des ungeborenen Lebens sorgt. Die Tatsache, dass sich noch keine Regierungskoalition gebildet hat, könnte aber, wenn die Parlamentarierinnen schnell handeln, den Weg ebnen, zumal sie unterstützt werden durch eine entsprechende Bundesratsinitiative der Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg und Bremen.
Doch die Streichung des § 219 kann nur ein erster Schritt sein, der immerhin dokumentieren würde, dass sich die Bundesrepublik nicht (mehr) gemein machen will mit der Rechtspraxis des Nazistaats.
Das grundsätzliche Problem löst das nicht. Denn die Rechtskonstruktion „rechtswidrig, aber straffrei“ belegt Ärzteschaft und schwangere Frauen, die abtreiben, mit einem Stigma – selbst wenn sie nicht belangt werden. Und den Abtreibungsgegnern öffnet sie die Tür für ihre fortwährenden Angriffe.
In der Weimarer Republik wurde der § 218 als Klassenparagraf angeprangert. Die Frauenbewegung der 70er Jahre hat ihn als sichtbarsten Ausdruck struktureller Frauenfeindlichkeit bekämpft. Auf Plakaten rot durchgestrichen prägte er die Demos, auf denen auch viele SPD-Frauen mitliefen, die heute nicht mehr im Bundestag sitzen. Dieses Erbe aufzunehmen und fortzutragen wäre ein lohnender Auftrag für deren politische Enkel.
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