Es ist gerade zwei Monate her, dass eine Berliner Historikergruppe die mit Spannung erwartete Studie über die Arzneimittelversuche vorstellte, die westliche Pharmafirmen zwischen 1964 und 1990 in der DDR in Auftrag gaben. Im Ergebnis präsentierten sie keine Sensation, die die DDR nachträglich noch einmal ins Zwielicht hätte rücken können, sondern nur die damals überall gängige Praxis, Patienten relativ nonchalant in Medikamententests einzubinden. In die DDR waren die Westfirmen nicht etwa gegangen, weil es dort viel billiger gewesen wäre, sondern weil die zentrale Steuerung des Gesundheitssystems Planungssicherheit versprach.
Umso irritierender wirkt es, dass Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) einen mittlerweile schon im Kabinett
Kabinett abgesegneten Entwurf vorgelegt hat, nach dem Demenzkranke künftig in derartige Arzneimittelversuche einbezogen werden könnten. Denn im Unterschied zu bisherigen Standards, nach denen der Nutzen solcher Tests für den Beteiligten unmittelbar sichtbar oder zumindest erwartbar sein muss, ist in der Novelle nur noch von einem gruppenspezifischen Nutzen die Rede. Es kann also sein, dass der Test eines Wirkstoffs in der frühen Phase dazu führt, dass der Patient geschädigt wird oder sogar stirbt.Genau dieses Risiko wird jedoch hingenommen, wenn sich aus dem Trial-and-Error-Verfahren, das medizinische Versuche in gewisser Hinsicht immer sind, am Ende irgendwann mal Vorteile für andere Patienten ergeben.Irritierend ist das, weil nach dem Nürnberger Ärzteprozess 1947, der mit dem Nürnberger Kodex endete, und der Deklaration von Helsinki 1964, die bis heute die Grundlage für die globale medizinische Forschung ist, die Rahmenbedingungen relativ eng gesteckt sind. Der ärztliche Ethikkodex für klinische Studien verlangt, dass Probanden aktuell und bei vollem Besitz ihrer Geisteskräfte aufgeklärt werden und in das Prozedere einwilligen müssen. Den Studienteilnehmern muss deutlich gemacht werden, ob sie einen persönlichen Nutzen davon haben oder ob es sich nur um einen „gruppennützigen“, also „fremdnützigen“, nicht unbedingt ihrer eigenen Gesundheit dienenden Versuch handelt.Das können demenzkranke Patienten aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr tun. Sie können nur vorauseilend einwilligen, sich solchen Testreihen zur Verfügung zu stellen. Genau das sieht Gröhes Entwurf auch vor. Per Patientenverfügung soll niedergelegt werden können, ob Menschen, wenn sie von einer entsprechenden Krankheit heimgesucht werden, an Medikamentenversuchen teilnehmen wollen. Natürlich sollen sie sich vorher über alle Eventualitäten kundig machen. Aber sie sollen auch an den Gemeinnutz denken in einer Zeit, wo sie geistig schon neben der „Normalspur“ sind und der Gesellschaft vielleicht nur noch finanziell zur Last fallen. Dann nämlich muss der gesetzliche Betreuer einem vor langer Zeit geäußerten Willen stattgeben und der Mitwirkung an solchen Tests zustimmen. Auch wenn sie dem Betroffenen gar nichts mehr nützen.Die Nützlichkeitsethik, eine eher im angelsächsischen Raum vorherrschende Haltung, infiltriert die bundesdeutsche Rechtslage schon seit längerem: Ob die Nötigung zur Organspende, die Entsorgung von Embryonen, die nicht den herrschenden Standards entsprechen, die Sterbehilfedebatte und vieles mehr: Der Ressourcengedanke, im Zusammenhang mit Konsum, Klimaschutz und Mülltrennung durchaus sinnvoll, treibt in der Gesundheitsindustrie bedrohliche Blüten.Dass mit Gröhes Gesetzentwurf auch gleich noch die ethischen „Bedenkenträger“ ins Abseits gestellt werden, ist nur konsequent. Bisher waren es die in den Ländern angesiedelten Ethikkommissionen, die in lange eingeübter Praxis über die Zulassung von Arzneimittelversuchen entschieden. Nun sollen sie nur noch „gehört“ werden, ohne Bindekraft ihres Votums. Geplant ist vielmehr eine von der Bundesaufsicht eingesetzte und behördlich abhängige Bundesoberbehörde, die die Ethikkommissionen bestellt.Einspruch gegen das gesamte Vorhaben kam bisher vor allem von den beiden christlichen Kirchen, die in einer Stellungnahme darauf hinweisen, dass sich noch jüngst der Bundestag für den Schutz nichteinwilligungsfähiger Patienten starkgemacht hat. Die EU-Direktiven, auf die Gröhes Ministerium reagiert, in der Weise auszuweiten, dass Medikamententests an dieser Gruppe vorgenommen werden, halten die Kirchen für nicht legitim. Gruppennützige Forschung sei begründungsbedürftig und die avisierten Erklärungen in Patientenverfügungen viel zu allgemein. Bedenken gegenüber der Entmachtung der föderalen Ethikkommissionen zeigt auch die Bundesärztekammer an. Nur der neu gewählte Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, hält sich bedeckt: Er sieht in fremdnütziger Forschung ein Gut, das es auch gegen die Interessen von Patienten zu schützen gilt.