Betroffenheit - und viel Heuchelei

Gesellschaftsbild Die toten Kinder von Darry und Plauen mobilisieren das Kontrollbedürfnis einer hilflosen Gesellschaft

Mein Mutter, die mich schlacht, mein Vater, der mich aß, mein Schwester das Marlenchen, sucht alle meine Beenchen ... die Märchenwelt ist voll von garstigen, gewalttätigen Müttern, und eine hat es sogar zu höchstem deutschen Literaturadel geschafft: Die Frankfurter Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt lieferte dem Juristen Goethe eine Vorlage für das Gretchen im Faust. Der unmittelbare Zugriff der Frauen auf die Kinder war von jeher also nicht nur liebevoll, sondern konnte auch zur Gefahr für sie werden. Dann verwandelt sich das schön gefärbte Bild von der liebenden Mutter in sein Gegenteil, das der Rabenmutter, die ihren Nachwuchs vernachlässigt oder gleich umbringt. Entlastend, wenn wie im Fall der fünf im schleswig-holsteinischen Darry getöteten Kinder die Täterin unzurechnungsfähig und krank ist und in die Psychiatrie abgeschoben werden kann.

Dass sich die Öffentlichkeit dennoch regelmäßig "schockiert", "entsetzt" und "fassungslos" zeigt, wenn Kinder wie Kevin, Marvin, Tim oder Jessica verdursten, verhungern oder durch die Hand der Mutter erstickt werden, offenbart allerdings eine ganz andere, eine soziale Pathologie. Um die innere Befriedung der Gesellschaft und ihren Kern, der Familien, steht es offenbar schlechter als angenommen, und im Wahrnehmungsschock bündeln sich neben echter Betroffenheit auch viel Heuchelei und schlechtes Gewissen. Wer im Rahmen von Hartz IV Kinder mit 2,57 Euro am Tag abspeist, wer die sozialen Dienste zugunsten des "schlanken Staats" abspeckt, wer Schulen verludern lässt und Zukunftsfenster für Jugendliche schließt, legt zwar nicht gleich das Messer in die mütterliche Hand, aber er verdunkelt zusätzlich den Horizont für Familien, die - aus welchen Gründen auch immer - Probleme haben.

Und wie stets, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen droht, wenn etwas zutiefst Widernatürliches die gedämpften Aufmerksamkeitszonen aufstört, wird nach Kontrolle und Intervention gerufen. Die neun ärztlichen Voruntersuchungen für Kinder sollen verpflichtend werden, die Jugendämter und Familiengerichte schneller eingreifen, die Nachbarschaft eine "Kultur des Hinsehens" (Merkel) entwickeln für Unstimmigkeiten, Auffälligkeiten, Abweichungen.

Aber ist es schon Abweichung und "komisch", wenn ein Kind, wie der Reporter der Süddeutschen Zeitung wissen will, ohne Pausenbrot und mit langen Haaren zur Schule kommt? Wie lebt es sich als Kind, wenn die Familie, in die es hineingeboren wird, schon bei seiner Geburt bei den Ämtern als "schwierig" gelabelt ist? Wo endet die fürsorgliche Aufmerksamkeit und wo beginnt die Schnüffelei - in einem Staat, der bis hin zur Krankenchipkarte alles nach außen kehrt? Natürlich ist es ein Skandal, wenn Kinder wie die kleine Jessica mit dem Löffel ans Fenster schlagen, um auf sich aufmerksam zu machen und keiner will es sehen. Aber mittels "Checkliste" - Alkoholismus, Gewalterfahrung, Drogen, Teenagerschwangerschaft - nun eine Familienrasterfahndung in Gang zu setzen, bedient vor allem die überzogenen Kontrollbedürfnisse einer eigentlich hilflosen Gesellschaft.

Einige ganz Besorgte sehen das Kindeswohl mittlerweile derart bedroht, dass sie die elterlichen Rechte zugunsten eines verfassungsmäßigen Kinderrechts schmälern wollen. Das passt in eine Zeit, die Individualisierung als höchste Norm setzt und wiederum genau die Probleme hervorbringt, deren Spitze die Kindestötungen von Darry, Plauen und anderswo sind. Es ist jedenfalls auffällig, dass bislang nie Familien mit Migrationshintergrund Schauplatz solcher Dramen waren - möglicherweise, weil das soziale Umfeld dort anders ist und die Netze (noch) stärker gewebt sind als in heilen deutschen Dörfern wie Darry.

Überforderung ist eine der Hauptursachen dafür, wenn sich Eltern als erziehungsunfähig und Schlimmeres erweisen. Das auf sich selbst, seine Fähigkeiten, sein Durchsetzungsvermögen Verwiesensein ist jedoch die Tugend, die diese Gesellschaft fördert und kultiviert - und die Annahme von Hilfe gilt schon als wettbewerbshinderlicher Makel.

Die acht toten Kinder von Plauen und Darry übrigens haben keine Namen. Als Einzelschicksale verschwinden sie in der großen Zahl. Noch bleibt es nur bei der beunruhigenden Erhellung einer Dunkelziffer.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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