Betrug mit System

Pflegeversicherungen In die Milliarden soll der Schaden gehen, den betrügerische Pflegedienste verursacht haben. Doch das Problem wurzelt im System selbst
Ausgabe 23/2017
In einem Land mit Pflegenotstand hat die Überprüfung der Dienste keine oberste Priorität
In einem Land mit Pflegenotstand hat die Überprüfung der Dienste keine oberste Priorität

Foto: Adam Berry/Getty Images

Es hätte ein gutes Jahr für die Pflegeversicherung werden sollen. Viele Jahre lang haben diverse Gesundheitsminister glücklos am neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff laboriert, bis es endlich so weit war. Inzwischen werden immerhin Demenzkranke berücksichtigt, ein differenzierteres Beurteilungssystem soll den vielfältigen Lebenslagen der Menschen in der ambulanten und stationären Pflege Rechnung tragen. Dafür bezahlt die aktive Erwerbsbevölkerung ein paar Beitragseuro mehr, ohne vernehmbares Murren. So viel Solidarität gibt es noch in dieser Gesellschaft.

Die Nachricht, dass die Pflegekasse schamlos missbraucht wird, trifft deshalb nicht nur den juristischen Nerv, sondern beschädigt auch diese tief verwurzelte Bereitschaft, den Solidaritätsvertrag zwischen den Generationen zu erfüllen. In die Milliarden soll der Schaden gehen, den betrügerische Pflegedienste durch falsche Abrechnung, Einsatz ungeschulten Personals oder gar gemeinschaftlich organisierte Erschleichung von Leistungen verantworten.

Dabei geht es nicht etwa darum, dass sich die Oma, wenn die Gutachterin vom Medizinischen Dienst kommt, ein bisschen klappriger gibt oder ein Angehöriger behauptet, so und so viele Stunden pflegerisch anwesend zu sein. Im Gegenteil versuchen sich die Betroffenen in der Regel möglichst rüstig vorzustellen, und die Angehörigen haben in einem System, das zuerst die Familien heranzieht, ohnehin das Nachsehen.

Der organisierte Betrug dagegen hat System, das im System selbst begründet ist. Vor 30 Jahren hätte sich kein Mensch vorstellen können, dass ein intensivmedizinisch zu betreuender Patient nach einem Krankenhausaufenthalt einen ihm unbekannten „Dienst“ beauftragt, sich um ihn zu kümmern. Nie hätte er sich als „Kunde“ wahrgenommen, geschweige denn einen entsprechenden Vertrag geschlossen oder die Leistungen überprüft.

Doch mit der Transferierung von Gesundheitsleistungen auf einen unüberschaubaren anonymen Anbietermarkt sind auch Pflegeleistungen in den Verwertungsstrudel geraten. Sofern es sich beispielsweise um Menschen mit Behinderung handelt, die sich mittels des Persönlichen Budgets selbstbestimmt auf diesem Markt versorgen, kann das von Vorteil sein.

Doch für die Mehrzahl der Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen ist es nicht immer leicht, seriöse von nicht seriösen Offerten zu unterscheiden. Richtig schlimm wird es, wenn wie in den von den Sonderermittlern des BKA aufgedeckten Fällen, ein Ring von Ärzten, Anbietern und Patienten die Kassen gezielt betrügt, indem nur vorgegeben wird, Leistungen abzurufen und zu erbringen. Dass sich dabei Betrugsbanden aus dem „russisch-eurasischen Raum“ hervortun, wird das Ressentiment bedienen, lenkt aber davon ab, dass es ihnen die Behörden leicht machen.

In einem Land mit Pflegenotstand werden Pflegekräfte aus aller Herren Länder rekrutiert oder Dienste zugelassen, ohne genau zu prüfen, ob sie die qualitativen und ethischen Anforderungen erfüllen. Nach dem Motto, dass der Markt es schon richten wird, hat sich im Pflegesektor ein Wildwuchs breitgemacht, dessen kriminelle Blüten erst nach und nach sichtbar werden. Auszujäten wäre das Gelände nur, wenn der Pflegeberuf attraktiver gemacht würde und die Dienste sich rigoroserer Kontrolle unterziehen müssten. Das aber ist nicht über ein paar Beitragseuro zu machen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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