Biedermeier-Terrorismus

IN ROTWEIN ERTRÄNKT In "Rosenfest" verkleinert Leander Scholz die RAF auf ein kleinbürgerliches Beziehungsstück

Man mag es überflüssig finden, anachronistisch oder borniert; man mag es wie Enzensberger als klassisches deutsches Verdrängungsritual "eskamotieren" und sich angeekelt abwenden. Dennoch lässt uns die Debatte um '68 nicht los, nicht zuletzt, weil da (noch immer) das schlechte Gewissen ist der einen, die den Weg suchten ins "System", während die anderen in den heroischen Tod gingen. Die gehen jetzt um als Gespenster, treiben ihr Wesen, an dem niemand genesen ist und viele zerbrochen sind, weil der Avantgardeanspruch hybrid und politisch tödlich war. Ihr Geheimnis haben sie mitgenommen ins Grab, und das hat sie, die zu Lebzeiten noch bewundert, kritisiert oder eben verurteilt werden konnten, in den Olymp des politischen Märtyrertums gebracht. Gefallene Helden entziehen sich politischer Verantwortung. Den Nachgeborenen bleiben die Epen und Symbole, die umso wirkmächtiger sind als ihre Botschaft entleert ist.

Nun aber rechnen sie ab, die Nachgeborenen. Bettina Röhl, die in blinder Verfolgungs- und Verkehrungswut in Joschka Fischer die eigene Mutter tribunalisiert; oder der 1969 geborene Leander Scholz, der das deutsche Familiendrama auf eigene Weise auf die Bühne hebt - sei es, um sich der Faszination zu entziehen, die die jugendliche Entschiedenheit der RAF in der luftballonseichten Atmosphäre der achtziger Jahre auf ihn ausübte; sei es, um die Ikonen zu erlösen und sie der versöhnenden Apotheose zuzuführen. Dass ihm dieser Versuch, der selbstgewiss als Roman daherkommt, nun um die Ohren geschlagen und weitergereicht wird von Verriss zu Verriss, ist nur teilweise sein Verdienst - dazu mangelt es dem Werk schlicht an Substanz und sprachlicher Präzision.

Dennoch hat Scholz offenbar einen Nerv der neuen deutschen Wirklichkeit getroffen. Die Abwehr hat etwas zu tun mit der Rückkehr der verloren geglaubten Söhne und (seltener) Töchter in das nachgemachte Biedermeierschlafzimmer mit der Kuhle in der Mitte des Bettes, das 1968 in einem Frankfurter Kaufhaus so spektakulär in die Luft ging.

Er habe ein "Märchen" zu Ende erzählen, "die Protagonisten der RAF für einen kurzen Moment noch einmal in ihre Privatheit entlassen" wollen, behauptet Scholz, und weist damit berechtigterweise alle Vorwürfe mangelnder historischer und biographischer Genauigkeit zurück. Im Märchen geht es bekanntlich darum, etwas eigentlich Unwahrscheinliches wahrscheinlich werden zu lassen, in diesem Fall etwas eigentlich Unverständliches verstehbar zu machen, also so nahe an die Akteure heranzurücken, dass ihr Tun plausibel erscheint. Ganz abwegig ist die Wahl des Genres insofern nicht, weil sich die damalige Welt der Linken ganz allgemein und der RAF im speziellen recht unterkomplex darstellte und sich wie im Märchen nach "Guten" und "Bösen" sortierte: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Scholz verlegt die Begegnung zwischen Gudrun Ensslin und Andreas Baader (fiktiv) auf den 2.6.1967, den Tag des Besuches des persischen Schahs in Berlin, der mit der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg endet. Auf der hoffnungslosen Suche nach der "entscheidenden Szene" trifft der dropout Baader im Demonstrationsgewühl auf die Studentin Ensslin. Was folgt, sind "Jagdszenen aus Deutschland", die den fehlenden politischen Tiefgang der Dialoge verdecken durch eine Mischung aus Roadmovie und Liebesschnulze ("Hast du mich jemals geliebt?", fragt der - erfundene - Verlobte Georg Gudrun; "Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt... ich habe dieses Gefühl zum ersten Mal", gesteht Gudrun Andreas in Paris).

Das meinen die Figuren mit ihrem Erfinder bierernst, so ernst, wie sie über den französischen Nationalcharakter schwadronieren oder Gudrun von Andreas "Entscheidungen" erwartet, die ihn zum "Mann" machen. Dass der politische Dezisionismus eine virile Ertüchtigungsstrategie ist, weiß man seit Jünger, und in den Spätsechzigern lebte sie fort in den Posterposen Che Guevaras, die in den Schmuddel-WGs so wenig fehlen dürfen wie ausgemusterte Bundeswehrschlafsäcke. Während in Berlin die Studenten noch ein spielerisches Happening auf dem Ku'damm inszenieren, zeigt das Scholz'sche Familienstück, wie aus dem Spiel zunehmend blutiger Ernst wird: Das Liebespaar im Kaufhaus, das sich ins Konfektionsschlafzimmer verirrt, könnte auch einfach den kleinbürgerlichen Weg weitergehen, statt Bomben zu werfen.

In der Entscheidung für das "andere Leben", das schließlich in den Untergrund führt, spricht sich zunächst nur die Sehnsucht aus, ernstgenommen zu werden von einem "System", das als feindliche Gegenwelt in Erscheinung tritt. Die pathetische Liebes- und Schmerzprosa (Baader: "Das reine Gefühl ist der Schmerz") auf der einen, die vom Autor gewollte, doch nicht beherrschte und deshalb komisch wirkende "System"sprache ("Wütend folgt ihnen der Polizist, seiner vorweggenommenen Anerkennung verlustig gegangen") auf der anderen Seite markiert dieses Schlachtfeld, in dessen Kampfzone das obsessive Liebesglück ständig nach ultimativen Beweisen ihres Bestands verlangt.

Die Verkleinerung des Heldenepos der RAF auf ein familiales Beziehungsstück in rührend kleinbürgerlichem Ambiente wäre eine echte Provokation: Wenn sich die flüchtigen Helden im Garten des italienischen Landhauses mit geklauter Designer-Sonnenbrille räkeln und in der Dorf-Boutique shoppen, dann könnte man schon erinnert werden an ihre Nachfahren von der Toskana-Fraktion, auch wenn diese geschmackssicherer auftreten mögen. Die Rede von den "wildgewordenen Kleinbürgern" begleitet die RAF seit ihrem Bestehen, und dass eine Ensslin in Stammheim landete und nicht im Deutschen Bundestag - das wäre eine mögliche Lesart des Romans - ist vielleicht nur schlichter Zufall.

Indessen vertraut der Autor diesem Diminutiv selbst nicht und bemüht sich statt dessen immer wieder, seine Helden und ihre politische Rhetorik zu retten. Dabei reduziert er politische Schauplätze und Figuren, die mit Baader und Ensslin in Berührung kommen, zu reinen Erfüllungsgehilfen einer romantischen Liebesidee, die sich aus Ensslins "Talent zum Unglücklichsein" und Baaders narzißstischem Größenwahn speist. Dass dieser Ideen-Kitsch unablässig auf "labberigen Transparenten, Zigaretten und Unterhosen" segelt, ist sprachlich zwar arm, doch konsequent: Das in den sechziger Jahren kultivierte pathetische "Existenzial", das das Pärchen Baader/Ensslin opernhaft in Szene setzt, knautschte nach kurzer phallischer Streckung letztlich auch zusammen und wurde in billigem Rotwein ertränkt.

Leander Scholz: Rosenfest. Hanser-Verlag, München 2001. 246 S., 35,- DM.

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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