Biete WG mit Pool

Pflege Gesundheitsminister Bahr hat das selbstbestimmte Leben im Alter entdeckt. Er hofft auf Synergiefeffekte – doch sein Konzept ist völlig lebensfern

In den siebziger Jahren, da war ich gerade 17, zog ich in meine erste Wohngemeinschaft. Ich versprach mir nicht nur ein vom Elternhaus unabhängiges Leben davon. Wir verbanden damit vor allem auch eine politische Perspektive: Wir wollten unser Leben zusammen organisieren, gemeinsam Politik machen. Und natürlich war das Projekt auch aus der Not geboren, wir hatten alle wenig Geld – zu wenig für eine Single-Existenz. Wohngemeinschaft bedeutete auch Synergieeffekte.

Von der staatlich verordneten Wohngemeinschaft, die Gesundheitsminister Daniel Bahr gerade auf den Weg bringt, ist nur noch das Letztere geblieben: der kostengünstige Synergieeffekt. Schließen sich vier demente Pflegebedürftige zusammen, können sie, Pflegestufe 1 vorausgesetzt, auf bis zu 3.400 Euro im Monat kommen. Wenn sie dann zur bestehenden Umbauförderung von 10.000 Euro noch einmal weitere 10.000 erhalten, sollte es doch möglich sein, sie zu „poolen“ – und wegzuschließen in einer Wohnform, die, so sagt es Bahr, „selbstbestimmt“ ist.

Kosten sparen

Selbstbestimmung, das klingt gut in den Ohren der Befreiungserfahrenen, die heute die Pflegeversicherung finanzieren. Mit dem Begriff „poolen“, den Minister Bahr wiederholt im Munde führt, ist dann auch der Link zur Kostenrechnung hergestellt: Statt Mitarbeiterpool gibt es jetzt eben einen Pflegebedürftigenpool. „Damit können langfristig auch Kosten gespart werden“, bekundet er mit dankenswerter Offenheit im Deutschlandfunk, „weil weniger Menschen in die teuren Heimpflege gehen müssen.“

Das Pflegeheim, wissen wir, scheuen viele alte Menschen, die Aussicht darauf treibt sie mitunter sogar in den Selbstmord. Aber statt darüber nachzudenken, wie in der stationären und ambulanten Pflege menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen sind, geht der Minister mit dem Werbelabel „selbstbestimmtes Leben“ hausieren, um zu sparen. Dass er null Ahnung hat von alten Menschen, die man nicht mehr einfach so „poolen“ kann und für die eine zusammen gewürfelte WG eher Horror als Alternative ist für die verlorene Autonomie, weil sie im Unterschied zu uns Jüngeren nur unter den Notbedingungen des Kriegs und Nachkriegs gezwungen waren, sich zusammenzuschließen – das scheint diesem jungdynamischen Minister, der noch zwischen allen Möglichkeiten wählen könnte, überhaupt nicht bewusst zu sein. Manchmal möchte man ihm einen längeren Feldaufenthalt in der Pflege verordnen, damit er sich das Ausmaß solcher Lebensbrüche vorstellen kann.

Alle sieben Sinne

Dass es funktionierende Wohngemeinschaften für Demenzkranke gibt, soll damit nicht in Abrede gestellt werden. Lange genug wurden sie von der Politik und den Sozialversicherungsträgern als minder wichtig bewertet und entsprechend ungenügend finanziert. Daraus ein gesamtgesellschaftliches Modell für alte Menschen machen zu wollen, ist jedoch abwegig.

Nicht nur, weil die angekündigte Finanzierung ungenügend ist und zu Lasten der Pflege (und auch der ohnehin unterbezahlten Pflegekräfte) gehen würde; sondern weil die Wohngemeinschaft ein Lebensmodell ist, für das man sich bewusst und mit allen sieben Sinnen entscheiden muss. Alle WG-Erfahrenen wissen, dass Zusammenleben gelernt sein will und man dafür auch einen Preis bezahlt. Dies von alten, multimorbiden, teilweise dementen Menschen zu erwarten, um die Sozialkassen zu entlasten, ist nicht nur lebensfern, sondern in höchstem Maße inhuman.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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