Familien nicht-deutscher Herkunft sollen künftig, wenn sie keine ausreichenden Deutschkenntnisse nachweisen können, keine Sozialhilfe mehr erhalten. Dieser grandiose Vorschlag zur Behebung der deutschen Bildungsmisere stammt vom stellvertretenden Berliner SPD-Fraktionsvorsitzenden Karl-Heinz-Nolte, nachdem die Ausländerbeauftragte Barbara John (CDU) Auswege aus dem "Bildungsnotstand" angemahnt hatte. Da wurde - nicht zuletzt von Johns Partei, die dem ohnehin kleinmütigen Zuwanderungsgesetz bis heute die Zustimmung versagt - jahrzehntelang bestritten, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei und verschloss sich begleitenden Maßnahmen. Ausländischen MitbürgerInnen nun "ausreichende deutsche Sprachkenntnisse" als Einwanderungsnachweis abzuverlangen oder si
sie andernfalls zu bestrafen, ist einigermaßen heuchlerisch. Dabei müssten Regierung und Opposition der Pisa-Schock und die zeitlich auf ihn folgenden Erfurter Ereignisse noch gründlich in den Knochen sitzen. So sehr, dass Bildung zwar nicht zur "Chefsache" erklärt wurde, dem Kanzler aber immerhin eine Regierungserklärung abverlangten. Was nun jedoch seit einem halben Jahr, seit Veröffentlichung der Pisa-Resultate, nein, nicht diskursiv ventiliert, sondern praktisch umgesetzt wird, lässt sich kaum als die geforderte "mentale Wende" in der Bildungspolitik, sondern nur als finanzpolitisch motivierte k.o.-Runde lesen - wenn es denn überhaupt entsprechende "Lektürekompetenz" in den zuständigen Ministerien gibt. Schulschließungen und Kopfprämien für Schüler in den ostdeutschen Ländern, fachliche Ausdünnung der Grundschulen in Berlin; Lehrerkahlschlag in Hamburg, eklatanter Unterrichtsausfall und Klassenstärken von über 30 an Frankfurter Schulen, Studiengebühren in Nordrhein-Westfalen... die Nachrichtenliste ließe sich beliebig verlängern. Die GEW nutzte vergangene Woche die Gunst der Stunde und demonstrierte mit 30.000 TeilnehmerInnen in Berlin. Von ihrem Schulausflug nach Skandinavien zurückgekehrt, schwärmt Bildungsministerin Bulmahn gemeinsam mit ihren sozialdemokratischen Länderkollegen von der dort herrschenden Selbständigkeit der Schulen, von dem Lerneifer der Schüler, der Ernsthaftigkeit (und geringen Bezahlung!) der Pädagogen und überhaupt von der finnisch-freundlichen Schulatmosphäre. Es ist die gleiche Ministerin, die vor Jahresfrist bundesweit und unisono die Hochschulvertreter auf die Palme brachte, weil sie hochqualifiziertes akademisches Personal, dem das Glück der Berufung (noch) nicht zuteil wurde, vor die Türe setzte. Wie, Frau Bulmahn, liest sich das im Buch der deutschen Bildungsgeschichte? Es liest sich so ver-rückt wie die Tatsache, dass eben nicht nur Schüler und Schülerinnen nicht-deutscher Herkunft das Klassenziel nicht erreichen, sondern auch die Sprößlinge sogenannter "bildungsferner Schichten" auf der Strecke bleiben - eben die, denen die Sozialdemokratie einst gesamtschulischen Aufstieg versprochen hatte. Sie stellen den Großteil der fast 30 Prozent Schulabgänger ohne regulären Abschluss. Verrückt ist auch, dass selbst die hartgesottensten christdemokratischen Bildungspolitiker inzwischen das Lob der Ganztagsschule singen. Müssen wir das als letztes Eingeständnis erziehungsinkompetenter Elternhäuser lesen? Oder als umfassendes dreißigjähriges Schulversagen? Und wahrlich verrückt ist, dass von der reformfreudigen 68er-Generation und ihrer Nachhut, die die westdeutschen Schulen einst euphorisch zum gesellschaftspolitischen Experimentierfeld erklärten, ein Haufen resignierter, lamentierender Besitzstandwahrer übrig geblieben ist, weil das einstige pädagogische Feuer in den Burggräben der Kultusbürokratien erstickte. Es ließe sich ja lernen aus dieser dreißigjährigen Bildungskatastrophe: Aus Skandinavien (und übrigens aus der DDR, aber daran mag heute kaum einer erinnern), dass man Schüler nicht vorschnell selektieren sollte und Leistung und Durchlässigkeit kein Widerspruch ist; dass man dem Klassenziel feministischer Bildungsforschung noch gnadenlos hinterherhinkt, weil Jungs nach wie vor schlecht lesen und Mädchen in den Naturwissenschaften noch immer Zwerge sind. Gelernt werden kann, dass Differenz in der Schule nicht vorschnell eingeebnet, konkurrent gemacht oder ausgebremst werden sollte, weil Integration nicht Anpassung, sondern Identitätsbildung voraussetzt. Zu lernen wäre zwischen den Schülern, dass unterschiedliche Herkunft produktiv sein kann; und vielleicht könnten sich Lehrer von den Computer-Kids auch die eine oder andere Fähigkeit abschauen. Die Pisa-Rankingliste mag einen gesunden Schock beigebracht haben. Dieses Ranking nun auf Länder- und gar Schulebene durch Vergleichstests fortzusetzen, schickt die Schulen aber auf einen Weg, den der Kanzler - erstaunlicherweise - als die "totale Durchökomisierung der Gesellschaft" bemängelt hatte.