Brache

Linksbündig Die Lust an 68 und die Selbstabwicklung einer Generation

Legenden, hat Helmuth Plessner einmal im Hinblick auf die "goldenen" zwanziger Jahre vermerkt, verdanken ihre Entstehung der historisch einmaligen Situation und dem Wissen der Nachgeborenen. So wie die Zwischenkriegszeit ihre Produktivität aus dem Stau des Kaiserreichs schöpfte und ihre nachträgliche Verklärung ohne das Schwerefeld des Nationalsozialismus undenkbar gewesen wäre, ist auch das Jahr 1968 das Resultat aufgestauter und unterdrückter Energien, die sich eruptiv entluden. Die später aufbewahrten Mythen speisen sich aus einer in diesem historischen Augenblick aufscheinenden nicht realisierten Möglichkeit; doch im Unterschied zu den roaring twenties, die in großstädtisch-kultureller Blüte in Erscheinung traten und ein politisch signifikantes Ende fanden, wurde die Revolte von 68 von innen heraus ausgehöhlt und korrumpiert und gelangte 1977 an ihr endgültiges Ende.

Übrig bleiben die Bruchstücke: Erinnerungen und Zeichen, aber auch die ehemaligen prominenten Repräsentanten, die, soweit sie in den Institutionen aufgestiegen sind, längst rehabilitiert scheinen. Eine Minderheit hat es wie die Sex-Kommunardin Uschi Obermaier an fremde Strände gespült oder sind wie die letzten Häftlinge aus der RAF-Ära noch immer weggesperrt, als ob schon ihre bloße Gegenwart darauf verwiese, dass da etwas der Erledigung harrt.

Dass das Jahr 1968 nun ausgerechnet mit diesem denkbar disparatesten Figurenensemble auf uns zurückschlägt, ist an sich schon bemerkenswert. Beutet die Popindustrie, 40 Jahre nach der Revolte, nur den Mythos aus und ringt ihm mit einem Film wie Die wilden Jahre die letzten peinlichen Zerrbilder ab, so wirkt die aufgestörte Debatte um die Freilassung zweier bis dahin völlig vergessener RAF-Aktivisten ein Symptom für einen nach wie vor glimmenden Unruheherd.

Zunächst einmal sind mit Obermaier auf der einen, Mohnhaupt und Klar auf der anderen die alten Erregungszentren markiert. Sie reichen von der angeblichen Lasterhöhle der Kommune 1, von der auch der militante Flügel der Achtundsechziger einen Ausgang nahm, bis hin zu den im Namen der Befreiung operierenden Erschießungskommandos. Der unverhüllte Busen der Uschi Obermaier und die aufgestellte MP im Emblem der RAF: Zusammen stehen sie für den Gesamtorgasmus der Achtundsechziger, an dem die Nation sich nachträglich noch einmal delektiert und ihre abgedichteten Lustareale reizt. Mag der Nackedei, der einst die voyeuristische Phantasie beschäftigte, heutzutage mehr Spott als Lust erregen; dass zwei Inhaftierte nicht widerrufen wollen und keine Reue zeigen, ist für den bürgerlichen Gefühlshaushalt offenbar unzumutbar. Zumal die dauerplaudernde, bilderäsende Republik nur bei Uschi Obermaier auf ihre seichten Kosten kommt. Die sichtlich unter Haftsyndromen Leidenden dagegen sind für den öffentlichen Talk nicht brauchbar, und am wenigsten wird Christian Klar verziehen, dass er ein so ungeschicktes mediales Bild abgibt.

Interessant ist, dass die popmythische Auferstehung von 68 mit nachdrücklichen Versuchen korrespondiert, das Feld zu "historisieren" und es politisch brach zu legen. Das Großunternehmen über die RAF aus dem Reemtsma-Konzern ist ein Experiment dieser Selbstabwicklung. Ein anderes wird demnächst in Form einer neu gegründeten Zeitschrift für Ideengeschichte zu besichtigen sein. Ihre Rückkehr zum "Ideenspeicher des Archivs", so das Editorial der ersten Nummer, verbindet sich mit dem expliziten Vorhaben, die "alten Hüte" von 68 ideengeschichtlich zu erledigen. Mit Fichte gegen Hegel, Marx und Freud und das Denkmuster des "Durchbruchs" zurückgeführt in den Besitzstand des Pietismus. Nun ja, den "Durchbruch" bemüht heutzutage auch nur noch, wer Koalitionskompromisse schönreden will.

Angeführt wird das Abwicklungsprojekt ausgerechnet von denjenigen, die aus dem Mythos der zwanziger Jahre, aus ihrem intellektuellen Fundus und ihrer theoretischen Schärfe einmal die Energie für die Revolte von 68 schöpften. Aus den Aktionen der Kommune 1 und den Kommandokassibern der RAF wird für die Nachgeborenen in der Tat theoretisch wenig zu erben sein. Doch war das alles? Mag die Mobilmachung von 68 ihrem Bewegungsimpuls erlegen sein; dass sie nun still gestellt wird im Ritual der Dauerreue und Selbstkasteiung hat fast etwas von der katholischen Besinnung der Romantiker.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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