Bußrituale?

Anamnetische Kultur Wie Vergangenes und Gegenwärtiges ins Gespräch gebracht werden können

Jede lebendige Erinnerung, stellt der Kulturhistoriker Jan Assman fest, hat eine Verfallszeit von ungefähr 80 Jahren. Sie reicht eben so weit, wie es noch Zeitzeugen gibt, die das Erlebte verbürgen können. Dann beginnt eine zweite, rituell befestigte Phase der Erinnerungskultur, in der das Geschehene neu entdeckt, neu erzählt und neu bewertet wird. Im Hinblick auf den Holocaust, so der Literaturwissenschaftler Wolfgang Frühwald, befinden wir uns gerade im Übergang zu dieser zweiten Phase: Nur so sei die Flut der Erinnerungsliteratur, die Massenartikel aus Hollywood oder eben auch die "politischen Bußrituale" (Hermann Lübbe) des letzten Jahrzehnts zu erklären.

Die unmittelbar Betroffenen wiederum haben ein genuines Interesse daran, an diesen Erinnerungsbildern mitzuwirken, so lange sie dazu noch im Stande sind. Das mag der entscheidende Grund dafür gewesen sein, dass die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) im Sommer 2001 acht überlebende Kinder und Jugendliche begrüßen konnte, die Opfer der medizinischen Menschenversuche in nationalsozialistischen Vernichtungslagern geworden waren. Ihr Kommen knüpften einige der Überlebenden an die Bedingung, der damalige Präsident der MPG, Hubert Markl, möge sich für die Verbrechen von Angehörigen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (der Vorläuferorganisation der MPG) öffentlich entschuldigen. Damit verbindet sich, wie Eva Mozes Kor erklärte, die Hoffnung, von prominenter Seite die Tatsächlichkeit dessen, was geschehen ist, anzuerkennen und sie gegenüber den Leugnern von Auschwitz zu behaupten. Tatsächlich fand das Ereignis damals eine öffentliche Resonanz, die kein noch so breit angelegtes und differenziertes Forschungsprojekt je erreichen kann.

Mittlerweile ist auch diese "historische Tatsächlichkeit" nachzuvollziehen in einem von Carola Sachse - bis vor kurzem Leiterin der Forschungsgruppe, die seit fünf Jahren die Geschichte der KWG im Nationalsozialismus aufarbeitet - herausgegebenen Sammelband Die Verbindung zu Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten (Göttingen 2003). Er dokumentiert - neben den üblichen Forschungsberichten - die Entschuldigung Hubert Markls und die Erwiderungen von Jona Laks und Eva Mozes Kor und darüber hinaus eindrückliche Zeugnisse der übrigen anwesenden Überlebenden. Sie sind, wie Wolfgang Frühwald anlässlich der Präsentation erklärte, Teil der "anamnetischen Kultur", die nicht nur für die Betroffenen von höchster Bedeutung ist (auch in dem Sinne, dass sie sich von der Forschung Aufschluss darüber erhoffen, was genau in den Lagern mit ihnen passierte), sondern auch für die per se "gedächtnislosen Institutionen", die an der Aufarbeitung ihrer Herkunft ein genuines Interesse haben müssten.

Wie derartige Schuldrituale allerdings zu bewerten sind, ist umstritten. Der Münchener Moralphilosoph Friedrich Graf machte auf die Asymmetrie solcher Entschuldungsinszenierungen aufmerksam. Den Schuldbegriff rechnete er zudem ausnahmslos den tatsächlichen Tätern zu, was aus seiner Sicht stellvertretende Entschuldigung unmöglich macht. Wenn aber, wie sich die Kommentatoren einig waren, weder in den Kaiser-Wilhelm-Instituten noch in Auschwitz wissenschaftliche Scharlatane tätig waren, sondern Forscher, die innerhalb der Rationalität ihrer Disziplinen arbeiteten und "nur" die "Gunst der Stunde" nutzten, um an Menschen zu experimentieren, wenn also die "Geschichte der NS-Medizin ein inhärenter Teil der Medizingeschichte" ist, wie Carola Sachse einleitend vermerkt, dann wirft dies Fragen nach den Gefährdungen heutiger (bio)wissenschaftlicher Forschungen auf.

Moderne Gesellschaften, so Friedrich Graf, bewegen sich in der paradoxen Situation, ihre Ethikbestände in dem Maße zur Disposition zu stellen wie sie gleichzeitig einen erhöhten Bedarf erzeugen. Da sieht sich offenbar der Theologe gefordert, der mit einer - institutionell gesicherten - Wissenschaftsethik aushelfen will. Frühwald dagegen sähe die heutigen Biowissenschaftler lieber ins Gespräch gebracht über die Opfer, die ihr Fach gefordert hat, um dem "erinnerungslosen Experiment ein Gedächtnis" zu geben. Bedenkt man, dass die im Nationalsozialismus begonnene Zwillingsforschung (deren Opfer Eva Mozes Kor, Jona Laks und ungezählte andere nicht Überlebende waren) nach 1945 in der Genetik einen ungeahnten Aufschwung erlebte, lägen die Vergleichshorizonte gar nicht so fern. Ein solches Gespräch jedenfalls wäre ein öffentlichkeitswirksamer Abschluss des ansonsten notwendigerweise in abgeschiedenen Archiven arbeitenden Projektes.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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