Der dritte Corona-Winter kündigt sich an, und wieder einmal gehen die Prognosen von Experten weit auseinander. Der Virologe Christian Drosten rechnet mit einer starken Infektionswelle im Dezember, weil sich neue Virusvarianten durchsetzen würden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wiegelt ungewohnt ab und prophezeit lediglich ein „mittelschweres“ Geschehen, auf das die Regierung „sehr gut vorbereitet“ sei. Der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, geht ebenfalls von höheren Inzidenzzahlen im ausgehenden Jahresviertel aus, stimmt aber optimistisch: „Wir haben das Schlimmste hinter uns“, sagte er. Gemessen am gerade verabschiedeten Infektionsschutzgesetz scheint sich die Bundesregierung a
Die vierte Corona-Impfung kommt. Und jetzt?
Corona Um eine breite Ansteckungswelle im Herbst zu vermeiden, sollen sich laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach alle impfen lassen. Die Stiko hält dagegen. Auch Experten sind sich über den Sinn und Zweck der vierten Impfung nicht einig

Lässt sich die Zahl der Ansteckungen durch eine vierte Impfung diesen Herbst wieder senken?
Illustration: der Freitag
rtel aus, stimmt aber optimistisch: „Wir haben das Schlimmste hinter uns“, sagte er. Gemessen am gerade verabschiedeten Infektionsschutzgesetz scheint sich die Bundesregierung auf Letzteres eingestimmt zu haben. Politisch zu bewerten ist, dass sich – bis zuletzt in Bezug auf die ausgesetzte Maskenpflicht im Flugverkehr – die FDP wieder einmal gegen den Gesundheitsminister durchgesetzt hat und die meisten Maßnahmen der Einschätzung der Bundesländer überlassen bleiben. Ob das Infektionsschutzgesetz am Ende fahrlässiges Laissez-faire oder überflüssiger „Werkzeugkasten“ war, wird sich erst in einigen Monaten erweisen.Denn nach fast drei Jahren Pandemie wissen wir, dass die Stichhaltigkeit von Vorhersagen sich erst im Nachhinein erweist, das gilt auch für die wissenschaftlichen und medial weiterverbreiteten Irrtümer. Als 2020 die Entwicklung von Corona-Impfstoffen in Gang kam, versprachen Wissenschaft und Politik, sie würden vor Ansteckung schützen. Beim Run auf die Impfzentren vertraute ein Großteil der Bevölkerung darauf. Auch die Debatten um die Einschränkung von Freiheitsrechten für Ungeimpfte und ein Jahr später die Impfpflicht gründeten lange auf der Annahme, dass Menschen, wenn sie schon auf Eigenprävention verzichten, verpflichtet werden können, andere zu schützen. Heute wissen wir, dass kein Corona-Impfstoff – auch kein an neue Virenvarianten angepasster – in der Lage ist, dauerhaft vor Ansteckung zu immunisieren, sondern lediglich den Verlauf der Erkrankung zu mildern.Helfen Masken wirklich?Als sich diese Erkenntnis durchsetzte, wurden die Maßnahmen damit begründet, die medizinische Infrastruktur nicht zu überlasten, was berechtigt ist, wenn man sich die Situation in den beiden vergangenen Wintern vor Augen hält. Wären die Gesundheitssysteme in vielen Ländern in den letzten Jahrzehnten aber nicht so heruntergefahren worden, wäre es vielleicht gar nicht zu den bekannten Engpässen gekommen. Auch die präventive Wirkung von Masken ist umstritten. Als sicher gilt, dass sie zumindest in den vergangenen beiden Jahren zwei Grippewellen verhindert hat. Als nicht invasive niedrigschwellige Maßnahme hat sie jedenfalls sozialhygienische Signalwirkung: die Bereitschaft, auf das Gegenüber Rücksicht zu nehmen.Euphorische Ankündigungen wie die Lauterbachs, die neuen angepassten Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna stellten einen „Quantensprung“ bei der Corona-Bekämpfung dar, sind also skeptisch zu beurteilen. Tatsächlich hat die Europäische Arzneimittelbehörde EMA kürzlich ein neues bivalentes Vakzin zugelassen, das sowohl gegen den ursprünglichen Wildtyp des Corona-Virus als auch gegen Subtyp BA.1 von Omikron ausgelegt ist. Allerdings spielt BA.1 inzwischen keine Rolle mehr, denn weltweit haben sich die Varianten BA.4 und BA.5 durchgesetzt, Letztere hierzulande zu 95 Prozent. Ein multivalenter Impfstoff, der gegen alle Omikron-Varianten schützen soll, ist in den USA bereits auf dem Markt. Um dort zugelassen zu werden, genügen präklinische Studien, das EMA fordert klinische Daten, die nur für den Impfstoff gegen BA.1 vorliegen.Das Gesundheitsministerium bewirbt nun breit eine Auffrischungskampagne im Herbst, doch in der Bevölkerung herrscht große Verwirrung, wer sich sinnvollerweise mit welchem Vakzin impfen lassen soll, zumal sich im Sommer viele Menschen infiziert haben und immun sind. Die kritisierte unzureichende Datenlage zum Immunstatus der Bevölkerung soll nun die Studie „Immunebridge“ des Bonner Virologen Hendrik Streeck füllen. Endgültige Ergebnisse liegen noch nicht vor, aber einem Zwischenbericht ist zu entnehmen, dass vermutlich bis zu 95 Prozent der Bevölkerung grundimmunisiert sind, das heißt durch Impfung oder Infektion Antikörper gegen das Spike-Protein gebildet haben, 43 Prozent gegen das Nukleo-Protein. Bei den über 60-Jährigen und vulnerablen Personen liegt der Wert darunter. Grundimmunisiert bedeutet allerdings keineswegs Immunität, denn das Vorhandensein von – im Laufe der Monate ohnehin abnehmenden – Antikörpern ist nur einer von vielen Faktoren, der vor einer Corona-Erkrankung schützt. Für Ältere und Immungeschwächte empfiehlt sich das zweite Boostern also, sagt die Ständige Impfkommission (Stiko). Streit gab es zwischen Karl Lauterbach und Stiko-Chef Thomas Mertens darüber, ob auch Jüngere „prophylaktisch“ noch einmal geboostert werden sollen. Mertens argumentierte, dass die Datenlage dies nicht rechtfertige und das Motto „viel hilft viel“ fürs Impfen nicht zutreffe.Über den Schaden zusätzlicher Impfungen kann man wenig sagenHintergrund ist der seit Längerem unter Wissenschaftler:innen diskutierte mögliche Einfluss wiederholten Boosterns auf das Immunsystem. Dazu hat das unabhängige Science Media Center eine interessante Umfrage unter Immunologen (alle männlich) gemacht. Während ein Teil der Befragten davon ausgeht, dass mit einer Auffrischungsimpfung keine immunologischen Nebenwirkungen zu erwarten sind und von einer „Übersättigung“ des Immunsystems nicht auszugehen sei, sehen das andere Experten skeptischer. Nutzloses „blindes“ Impfen, so etwa Andreas Radbruch vom Berliner Rheuma-Forschungszentrum, berge mehrere Risiken, die über die unangenehmen lokalen und systemischen Nebenwirkungen hinausgingen. Es sei nicht auszuschließen, dass einzelne Geimpfte gegen künftige Impfungen mit anderen Vakzinen Unverträglichkeiten oder sogar eine Autoimmunerkrankung ausbildeten. Über den Schaden zusätzlicher Impfungen kann derzeit aber aufgrund fehlender immunologischer Studien wenig ausgesagt werden. Grundsätzlich halten die Fachleute drei absolvierte Impfungen bei jüngeren Menschen ohne Vorerkrankungen für ausreichend.Aufsehen erregte kürzlich auch eine Studie des an der Charité lehrenden Mediziners Harald Matthes, der die vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) erhobene Häufigkeit von Impfnebenwirkungen anzweifelt. Aufgrund einer eigenen, nicht repräsentativen Umfrage mit 40.000 Teilnehmern behauptet er, dass einer von 125 Geimpften, also 0,8 Prozent, schwere Nebenwirkungen davontrage. Das würde bedeuten, dass in Deutschland 500.000 Menschen unter schweren Impfschäden leiden. Das PEI geht von 0,02 Prozent aus. Allerdings gibt es Dissens, was unter schweren Nebenwirkungen zu verstehen ist. Die internationalen Arzneimittelbehörden bezeichnen damit Erkrankungen, die lebensbedrohlich oder tödlich verlaufen, Matthes fasst den Begriff weiter. Neben Kritik an Matthes’ Methode wurden Zweifel hinsichtlich der Kausalität der Krankheitsereignisse laut. Nicht alle „unerwünschten Ereignisse“ nach einer Impfung sind unbedingt auf diese zurückzuführen. Der Verdacht, dass beim PEI nicht alle Fälle von Impfschäden gemeldet werden, ist bereits früher geäußert worden. Momentan nimmt dort eine Studie die von medizinischem Personal und Impflingen gemeldeten 323.684 Verdachtsfälle genauer unter die Lupe.Die Frage, welcher Personenkreis noch einmal geboostert werden sollte, hat auch ökonomische Hintergründe. Kürzlich lüftete die Bundesregierung ihr Geheimnis um die Gesamtausgaben für Impfstoffe, welches mit Hinweis auf die Verträge mit den Herstellern immer streng gehütet wurde. Auf Anfrage der CSU teilte das Gesundheitsministerium mit, dass sich die Kosten für den Kauf von Vakzinen auf 6,8 Milliarden summiert haben. 46,4 Milliarden wurden für Impfvergütungen, Impfzentren, Tests und Ähnliches ausgegeben. Lauterbachs großzügige Bestellungen für den Herbst sind in diesen Zahlen noch nicht enthalten. Die CSU versucht nun, daraus ein politisches Süppchen zu kochen. Würde es im Herbst jedoch zur Impfstoffknappheit kommen, wie unter Lauterbachs Vorgänger Jens Spahn (CDU), wäre das Geschrei groß.