Crichtonsaurus nanolus

Konjunktur der Technikpriester Michael Crichtons Wissenschaftsthriller "Beute" illustriert, in welchem Maße Technikszenarien an die Stelle gesellschaftlicher Utopien getreten sind

Evolution unterliegt dem Gesetz der Beschleunigung. Wenn das erste einzellige Leben bereits vor vier Milliarden Jahren die Erde bevölkerte, die menschliche Existenz jedoch erst vor 35.000 Jahren* in Form von Höhlenmalereien nachweisbar ist, dann bekommen wir eine Vorstellung davon, welch dramatische Entwicklung der neuzeitliche Mensch hinter sich gebracht hat. Schon heute fällt es den um die Mitte des 20. Jahrhunderts Geborenen schwer, einem Computer-Kid zu erklären, dass es einmal eine Welt ohne digitale Schaltkreise, Festplatten und delete/repeat-Funktionen gegeben hat und das Leben sozusagen im Ernstfall erprobt werden musste.

Zu den Gesetzen der kulturellen Reproduktion gehört es indessen auch, dass immer dann, wenn unsere "fossilen" Körper besonderer Beschleunigung ausgesetzt sind, Überbietungs-Jünger Konjunktur haben. So wie die Industrielle Revolution illustre Apokalyptiker und Priester des technischen Fortschritts gleichermaßen hervorbrachte, bevölkern heutzutage Futuristen wie Bill Joy, Ray Kurzweil oder der Guru Rael die ausgedünnten Seiten der Feuilletons. Auf der Überholspur wähnt sich, wer die machbaren Realitäten gedanklich noch einmal forciert, als ob auf diese Weise Anschlussstellen an die trägen Mentalitäten zu schaffen wären.

Mitte der achtziger Jahre führte die amerikanische Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway mit hohem theoretischen Aufwand den "Cyborg", also das Mischwesen aus Mensch und Maschine, als positive feministische Erzählfigur ein und verfolgte, indem sie die Körper ihrer "Natur" entkleidete, durchaus emanzipatorische Ziele. Wenn ihre (damals ursprünglich gegen den Ökofeminismus gerichtete) Idee heute allerdings von Rael-Häuptling Vorilhon diskursiv aufgenommen und die von ihm (angeblich) geschaffene schöne neue Klonwelt "als Befreiung der Frauen" von den Männern und deren Konflikten gefeiert wird (vgl. FAZ v. 31.12.), dann ist das mehr als nur eine eigenartige Allianz. In den gut fünfzehn Jahren seit dem Manifesto for Cyborgs haben Technikutopien - gleichgültig, ob nun positiv behauptet oder negativ entworfen - gesellschaftlich motivierte Denkentwürfe vollständig ersetzt.

Eine technisch generierte Horrorvision hat kürzlich mit viel publizistischem Begleitgeheul der amerikanische Erfolgsautor Michael Crichton (weltweit bekannt geworden durch verfilmte Thriller wie Jurassic Parc, Koma ect.) vorgestellt. Statt auf Riesendinos - chinesische Archäologen haben Crichton zu Ehren gerade einen Crichtonsaurus bohlini kreiert - verlegt er sich dieses Mal auf die Welt der kleinsten Teilchen, die Nanotechnologie. Ihren Anwendungen wird von Forschungspolitikern, das lässt sich im neuesten DFG-Bericht nachlesen, höchste Relevanz eingeräumt: Unabsehbare Wissensfelder sollen mit Hilfe der Nanometerskala (ein Nanometer entspricht einem Milliardstel Meter) erschlossen, nanoskalige Werkstoffe mit völlig neuen Eigenschaften erzeugt oder nanorobotische Systeme etwa in der medizinischen Diagnostik eingesetzt werden. Wer träumt nicht von selbstreinigenden Fensterscheiben oder von Waschmaschinen, die nicht mehr verkalken? Nanopulver wird bei der Herstellung von Chips bereits angewendet, die Zukunft gilt statt dem gängigen Silizium- dem Nano-Chip. Brisant wird die Technologie dort, wo Biogenetik, Nano- und Computertechnologie miteinander verschmelzen und beispielsweise nanorobotische Systeme zu erzeugen versuchen (etwa im biologisch orientierten Nano-Bereich um den amerikanischen Wissenschaftler Eric Drexler). Um Atome zu manipulieren und neue Nano-Moleküle zusammenzubauen, bedarf es winziger Werkzeuge, zum Beispiel Rastermikroskope - oder im Falle Crichtons Bakterien oder Viren. Die Moleküle haben, so die Vorstellung, dann ihrerseits die Fähigkeit, sich neu zu organisieren (zu "assemblieren"), ihr Verhalten der Umwelt anzupassen, "intelligent" zu handeln und sich unter Umständen sogar zu reproduzieren.

Diesen explosiven Stoff verarbeitet Crichton nun in seinem Wissenschaftsthriller Beute (Blessing-Verlag, München). Die Schöpfungsgeschichte eines wild gewordenen Nano-"Schwarms", der sich selbständig macht und wie ein lebendiger, beutemachender Organismus agiert, dauert sieben biblische Tage, die den vom Autor unterstellten evolutionären Beschleunigungsgesetzen folgen. Fast gemächlich führt der Roman in das Leben der Familie Forman ein: Jack, zur Zeit arbeitsloser Bioinformatiker und Spezialist für die Programmierung verteilter Netzwerke, versorgt die drei Kinder, während Julia, ursprünglich Kinderpsychologin, ins Management des Nano-Konzerns Xymos Technologies aufgestiegen ist. Zunächst nur eifersüchtig aufgrund von Julias verändertem Verhalten, das er sich nur mit einem Liebhaber erklären kann, beobachtet Jack in seiner Umgebung eigenartige Vorgänge: Speicherchips zerbröseln auf seltsame Weise, die neunmonatige Tochter Amanda erkrankt an einem unerklärlichen fiebrigen Ausschlag, und Julia wird Opfer eines merkwürdigen Unfalls.

Am fünften Tag schließlich wird Jack in ein in der Wüste gelegenes Xymos-Labor abkommandiert, wo sich herausstellt, dass eine für das Pentagon konzipierte und erprobte nanotechnische Überflugkamera außer Kontrolle geraten ist. Die ursprünglich mit Hilfe von Bakterien hergestellten winzigen Maschinchen haben sich zu einem "Schwarm" assembliert, der all die Eigenschaften hat, die Donna Haraway für das biotisch-polymorphe Informationszeitalter als charakteristisch beschreibt: Sie sind zusammengesetzt aus Komponenten, vermehren sich durch Replikation, haben die Fähigkeit zu simulieren und sich selbst zu optimieren. Sie agieren - ganz ähnlich wie Bienenschwärme oder Ameisenvölker - als komplexes Netzwerk, wobei die einzelnen Nano-Teilchen unterkomplex programmiert sind. Mörderisch sind sie, weil ihnen das zielgerichtete Beuteverhalten eingepflanzt wurde. Mitunter jedoch suchen sie sich auch menschliche Opfer, die sie nicht töten und fressen, sondern "besetzen" und in ihre Dienste nehmen. So beginnt ein zwei Tage währender, beschleunigter Kampf gegen die Monsterschwärme. Die rasante Handlung unterlegt Crichton großzügig mit instruktiven Dossiers aus der Welt der Wissenschaft, aus denen sich zwar einiges lernen lässt, die jedoch dazu neigen, die Romanform zu sprengen.

Dass die aufgebotenen narrativen Figuren dem Arsenal romantischer Horrorfictions entlehnt und die beutegierigen "Schwärme" natürlichen Vorbildern nachempfunden sind, um filmische Sichtbarkeit zu ermöglichen; dass damit gerade das Furchteinflößende der Nanoteilchen - ihre Unsichtbarkeit - neutralisiert wird; dass überhaupt das ganze Buch bereits als Drehbuchvorlage entworfen und der Showdown nach dem Muster jedes x-beliebigen Hollywood-Thrillers gestrickt ist; dass Crichton nicht gerade ein Meister des psychologisch Subtilen ist; und dass das ganze Spektakel überhaupt nur wieder einmal ein dümmlicher, literarisch wenig ambitionierter Schlag einer bedenkenträgerischen Kultur gegen innovative Wissenschaftsentwicklung sei: All diese Einwände wurden bereits vorgebracht - und ihnen ist in vielen Fällen auch kaum zu widersprechen.

Dem Science-Stoff allerdings ist ein Subtext unterlegt, der nicht von Wissenschaft handelt, nicht von gefährlichen Techniksystemen und ihrer Unberechenbarkeit und auch nicht von der Abschaffung des Menschen durch "natürliche Objekte". In gewisser Hinsicht liefert Crichton ein Erziehungsscript für den Menschen des 21. Jahrhunderts. Es handelt von Anpassungsfähigkeit, von Kooperation, vom Umgang mit Vergangenheit und Gedächtnis und von Selbstoptimierung. Und er handelt - noch immer - von Männern und Frauen.

Julia und Jack repräsentieren ein modernes amerikanisches Paar, das sich im - zwar ungewollten - Rollentausch übt und diesem (im Falle Jacks) sogar etwas abgewinnt. Das Familiensystem, das er - als Familienvater ebenso verantwortungsvoll wie als Wissenschaftler - sichert, wird bedroht durch den Einfall des "Fremden". Julia hat sich verändert, sie funktioniert nur noch für den Konzern, kümmert sich kaum noch um die Familie. Sie ist regelrecht besessen von den Nanos, während der "Querulant" Jack keinen Job mehr findet, zum "Ladenhüter" wird, wie seine Agentin meint. Seine neue, noch ungesicherte Position in der Familie, gepaart mit Verlustängsten, treibt manifeste frauenfeindliche Blüten: "Jeder Vater wusste, dass die Rechtsprechung Mütter hoffnungslos bevorzugte."

Jack steckt fest. Ihm geht es wie den von ihm entwickelten Agenten-Programmen: Sie interagieren selbsttätig, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, doch irgendwann folgen sie irrigen Annahmen oder befinden sich in Motivationskonflikten, jedenfalls verhalten sie sich unangemessen, wiederholen veraltete Muster, sie "stecken in der Vergangenheit fest". Auch Jack verharrt in seinen Erinnerungen an eine glückliche intakte Familie: Dies sei, so räsoniert er, aber "nur eine Erinnerung. Und ich hatte große Angst, dass sie mit der Gegenwart nicht mehr viel zu tun hatte." In computergenerierten Evolutionsprogrammen, wird eine Seite später kommentiert, "sterben solche Agenten aus, werden einfach übergangen".

Julia dagegen hat sich angepasst. Sie ist Jack überlegen, gerade weil sie ihr beruflich-psychologisches und geschlechtsspezifisches Humankapital - Empathie, Verständnis, Konsensorientierung - einsetzt. Sie schafft es nicht nur in die Manageretage, sondern sie hat auch ein besonderes Einfühlungsvermögen für die Nanoschwärme und verhindert, dass sie, bevor sie Unheil anrichten, getötet werden. Sie ist fasziniert von ihrer Koevolution und vom Netzwerkverhalten, nach dem sie lernen und arbeiten: Es gibt keinen Entscheidungsbevollmächtigten oder Anführer, alles, was passiert, ist im einzelnen zwar zielgerichtet, im Ergebnis aber offen und zufällig. Das bedrohte Labor-Team in der Wüste ist dann besonders verletzlich, wenn Einzelne aus Angst oder Geltungsdrang ausscheren; agiert es als "Schwarm", kann es sogar die bedrohlichen Nanos in Schach halten. Vielleicht, heißt es an einer Stelle, sind "die gesamte Bewusstseinsstruktur, die menschliche Selbstkontrolle und Zielorientiertheit nur eine Benutzerillusion".

Nun ist der Gedanke, dass unterkomplexe mentale Ausstattungen unter Umständen störungsfreier und effektiver funktionieren, in der Verhaltensforschung nicht neu, und er hat - man denke an die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts - auch Denkfiguren in der Kunst hinterlassen (von politischen ganz abgesehen). Der Reiz des Entwurfs läge somit in einer Existenz, die, entlastet von Verantwortung, im "Schwarm" aufgeht, minimalistisch koordiniert handelt und dennoch ihr Ziel erreicht. Die von der Hirnforschung gestützte Vorstellung vom Menschen als einer Kombination von "Organschwärmen" mit "Schwarmintelligenz" (Crichton) aktualisiert auf neuer Ebene, was Arnold Gehlen einmal als fundamentale anthropologische Entlastungsleistung durch Automatismen formulierte.

Doch leider siegt bei Crichton am Ende doch nur "männliche" Intelligenz - und mit ihr alle abgedroschenen Männerphantasien: Ein nanobehextes Weib, das küssend die Schwärme auf Männer überträgt; und in den gigantischen Nano-Nestern überall wimmelnde, glibbrige, ekelerregende Substanzen - Klaus Theweleit hätte seine Freude! Solcherlei Bilder sind weder der Brisanz des Gegenstands angemessen, noch geeignet, ein neues "Erziehungsprogramm" zu implementieren - am Ende bleibt ein, wenn auch spannender, Crichtonsaurus nanolus.

* Dies ist eine Korrektur gegenüber unserer Druckausgabe. Darin war, entstanden durch eine Kürzung, irrtümlich von zwei Millionen Jahren die Rede.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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