Damals im Mai

Paris 1968 Als Politik zur Kunst und die Kunst politisch wurde

Chienlit, so nannte sie der alte General, Bettscheißer. Aber so wörtlich war das nicht zu nehmen, im Mai ´68 in Paris, denn im Bett hielten sich die Aufrührer damals wohl am seltensten auf, auch wenn es der Mythos der 68er heute anders erzählt. Vielmehr war es die Straße, auf der im Sinne de Gaulles das französische "Nest beschmutzt", das "Chaos" initiiert und die fünfte französische Republik aufgerollt wurde, fast jedenfalls.

Vorangegangen war Anfang des Jahres ein vergleichsweise unspektakulärer Vorgang an der tristen Universität von Nanterre, einem Vorort von Paris, wo der französische Sport- und Jugendminister während einer Schwimmbadeinweihung auf einen rotzigen studentischen Rotschopf stieß und ein Wort das andere gab: So wurden François Missoffe und gewisser Daniel Cohn-Bendit in die Geschichtsbücher katapultiert.

Als am 22. März ein Student während einer Protestaktion verhaftet wurde, gab es kein Halten mehr: Die Proteste verlagerten sich von der besetzten Sorbonne auf die Straße, und aus den versprengten Campus-Grüppchen formierte sich die "Bewegung des 22. März", ein revolutionäres Kampfbündnis, das zunächst auf die Schüler und schließlich sogar auf die französische Arbeiterschaft übergriff - fast einmalig in der globalen Bewegung der jugendlichen Eliten.

Am 10./11. Mai verschanzten sich Tausende von Studenten, Schüler und Arbeiter im Quartier Latin hinter Barrikaden, und die Pariser Bevölkerung solidarisierte sich angesichts der brutalen Polizeiaktionen. Es kam zu Betriebsbesetzungen, zeitweise wurde die gesamte Auto-, Chemie- und Metallindustrie lahmgelegt. Frankreich erlebte den ersten wilden Ausstand seiner Nachkriegsgeschichte.

Begleitet wurde die politische und gewerkschaftliche Massenmobilisierung durch eine kunstrevolutionäre Aktivität ohnegleichen. Am 14. Mai besetzten die Studenten der Ecole Nationale des Beaux Arts die Produktionsräume. In der von ihnen zum Atelier populaire deklarierten Hochschule gestalteten sie in den folgenden Wochen rund 350 Plakate, die mit einer Gesamtauflage von 600.000 Exemplaren Paris überschwemmten. Die Aktivisten trugen ihre Erfahrungen und Losungen in den künstlerischen Raum, wo sie kollektiv diskutiert und in Arbeitsgruppen umgesetzt wurden. Für einen kurzen historischen Augenblick entfaltete sich ein fulminanter politisch-künstlerischer Austausch, der alle herkömmlichen Formen künstlerischer Produktion durchbrach.

In den aus dem Atelier populaire hervorgegangenen Plakaten, die Volkhard Brandes in dem Band Paris, Mai ´68 neben Karikaturen und Fotos zusammengestellt hat (Verlag Apsel und Brandes), spiegelt sich die eruptive Erregung der Pariser Mai-Ereignisse, die gewaltbereite Wut auf die Staatsmacht und den Staatspräsidenten, aber auch - gerade in ihren plakativen Verkürzungen - die ideologischen Fehlleistungen.

Der sprichwörtlich gewordene Pflasterstrand, auf den Gassen des Quartier Latins entdeckt, ist im Motiv des Pflastersteins in diesen Dokumenten ebenso präsent wie die allgegenwärtig geballte Faust, die von der Entschlossenheit der Kämpfer kündet. Typisch sind die vielen, de Gaulle thematisierenden Karikaturen, die seine ordnungspolitische "starke Hand" in die Nähe zur SS rücken - eine für den Präsidenten kaum überbietbare Provokation. Wie überhaupt, da unterscheidet sich die französische Bewegung von der deutschen nur wenig, vergangenheitspolitische Vereinfachungen immer wieder in den Tageskampf hineingetragen werden.

Aber auch die Reaktion, das zeigen die Plakate, stand bereit, ihre Kolonnen zu mobilisieren. Am 30. Mai 1968, nachdem de Gaulle in einer Ansprache mit dem Ausnahmezustand gedroht und Neuwahlen angekündigt hatte, demonstrierten die Gegner des Aufstandes unter Führung von André Malraux und Michel Debré. Es war der Anfang vom Ende. Der politisch ohnehin nur notdürftig zusammengehaltene Aufstand zerbrach nicht zuletzt an der Haltung der KPF, die sich vor den nicht kontrollierbaren jugendlichen "Chaoten" mehr fürchtete als vor der politischen Reaktion. Zuerst kehrten die Arbeiter an die Werkbänke zurück und schließlich die Studenten in die Universitäten. Bei den Neuwahlen am 23. Juni gingen die Gaullisten als Sieger hervor, doch mit der Ablehnung eines vom Präsidenten vorgeschlagenen Referendums ging 1969 auch die Ära de Gaulle zu Ende.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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