Dank des Vaterlands oder Geschenk der Revolution?

Frauenstimmrecht Am 30. November 1918 verkündete der Rat der Volksbeauftragten das Frauenwahlrecht. Am 19. Januar 1919 wählten Frauen erstmals in der deutschen Geschichte

Als die Hamburger Grün-Alternative Liste (GAL) 1986 mit den Frechen Frauen eine reine Frauenliste an den Start des Wahlkampfes schickte, landete die "klassische Mackerorganisation" (so die damalige Kandidatin Ulla Jelpke) noch einmal einen echten Coup, bevor sie in die Agonie von Wahlkampfarithmetik, Koalitionsaussagen und realpolitischen Anpassungen fiel. Mit über zehn Prozent holten die Frauen damals das bislang beste Wahlergebnis für die Partei, auch wenn es zu einer Regierungsbeteiligung nicht kam, weil sich die SPD noch einmal mit der absoluten Mehrheit aus der Bündnisaffäre ziehen konnte.

Kurzer Frauenfrühling

Immerhin fand der frauenbunte Wahlkampfschlager bald sozialdemokratische Nachahmer: Drei Jahre später ging der Regierende Bürgermeister Walter Momper mit dem rot-grünen Berliner Frauensenat in die nächste Experimentalrunde. Acht Senatorinnen mussten unter der kritischen Beäugung der Szene, einer sensationsheischenden Presse und einer argwöhnischen Bevölkerung nicht nur ihre Politikfähigkeit beweisen, sondern auch Mode-, Geschmacks- und Moralvorstellungen bedienen. Unvergessen die Affäre um die Frauensenatorin Anne Klein, deren damalige "Pilotspiele" sich im Vergleich zu den Transaktionen heutiger Finanzzocker wie "Mau Mau" gegen ein Spielcasino ausnehmen. Dass dem Frauensenat nur eine gerade einmal anderthalbjährige Verweildauer im Schöneberger Rathaus beschieden war, hatte weniger mit der Arbeit der Senatorinnen, ihrer fehlenden Hausmacht und dem allgemeinen Misstrauen zu tun als mit der Wende, die den Senat buchstäblich überrumpelte. Immerhin war der kurze Berliner Frauenfrühling mit seinem "Hexenfrühstück" und seinen Skandalen eine nachhaltige Versuchsanordnung in Sachen Frauen und Macht, die zumindest Politikwissenschaftlerinnen noch eine Weile beschäftigen sollte.

1986 - gerade einmal vier Jahre nach der "geistig-moralischen Wende" Helmut Kohls - hätte sich allerdings keine Frau (von Männern ganz zu schweigen) vorstellen können, dass 20 Jahre später einmal eine Kanzlerin auf diesem Stuhl sitzen würde - zumal eine christdemokratische. Das in Skandinavien früh erprobte und durchaus erfolgreiche Modell weiblicher Staatsführung schien in Deutschland, wenn überhaupt, damals höchstens unter sozialdemokratischem Vorzeichen denkbar zu sein. Insofern ist es bemerkenswert, dass nicht die SPD, sondern mit Rita Süssmuth die Union die erste Frauenministerin und später Bundestagspräsidentin stellte und es mit Angela Merkel heute eine Frau aus dem bürgerlichen Lager geschafft hat, einen der wichtigsten Industriestaaten zu führen. Die muss inzwischen nicht einmal mehr Mörder in den eigenen Reihen fürchten.

Frauenwahlrecht - aber welches?

Ein Blick in die Geschichte könnte dieses erstaunliche Phänomen etwas erhellen. Zwar war es die Sozialdemokratie, die 1891 als erste Partei das Frauenstimmrecht in ihr Wahlprogramm aufnahm und es drei Jahre später, wenn auch erfolglos, im Reichstag beantragte. Ausgegangen war die Stimmrechtsbewegung jedoch schon zuvor von den relativ gut ausgebildeten bürgerlichen Frauen. Die Schriftstellerin Hedwig Dohm rief 1873 erstmals öffentlich nach dem Wahlrecht für Frauen. Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg nahmen den Ball auf, setzten sich mit ihrer Forderung nach einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht später jedoch von den gemäßigteren Vertreterinnen im Bund Deutscher Frauenvereine ab. Die drängten zwar ebenfalls an die Wahlurnen, aus Angst vor den radikalen Arbeiterinnen aber nur im Rahmen des bestehenden Dreiklassenwahlrechts.

Der Handlungsspielraum der damals aktiven Frauen war ohnehin extrem beschränkt. In vielen Staaten, darunter in Preußen und Bayern, verbot ein restriktives Vereinsrecht Frauen jegliche Art politischer Betätigung. Heymann und Augspurg mussten nach Hamburg ausweichen, als sie 1902 den "Deutschen Verein für Frauenstimmrecht" ins Leben riefen. Die radikalliberalen Frauen schlossen zwar taktische Bündnisse, gerieten mit der zunehmenden Nationalisierung vor dem Ersten Weltkrieg aber immer stärker in die Defensive. Der Krieg, in den die Frauen als "weibliche Heimarmee" (Barbara Guttmann) rekrutiert wurden, durchkreuzte dann zunächst alle weiteren Emanzipationsbestrebungen.

Selbstbeschränkung

Ob das im November 1919 verankerte allgemeine und gleiche Wahlrecht für männliche und weibliche Personen ab 20 Jahren nur der billige "Dank des Vaterlands" war oder die Revolution es den Frauen "geschenkt" hatte, wie Agnes Zahn-Harnack, die als Frauenrechtlerin und Friedensbewegte für die linksliberale DDP in die Nationalversammlung einzog, erklärte, war damals und ist bis heute umstritten. Zumindest im Vergleich von 1919 und 1949 zeigt sich, dass der Krieg nicht unbedingt ein "Schrittmacher der Emanzipation" (Irene Stoehr) sein muss - zumindest, soweit sie die weibliche Repräsentanz in Parlamenten meint. Während nämlich in der ersten Weimarer Nationalversammlung schon 41 Frauen, das waren fast zehn Prozent aller Abgeordneten, saßen, waren es im ersten Deutschen Bundestag gerade einmal 31 (6,8 Prozent). Die erste Volkskammer der DDR erreichte mit 110 Frauen - fast einem Viertel der Abgeordneten - bereits 1950 das bundesdeutsche Niveau des Jahres 2002. Womit allerdings noch nichts über den Einfluss der Parlamentarierinnen auf die Politik gesagt ist.

Das war schon in der ersten Republik ein Problem, denn die Frauen beschränkten ihren Aktionsradius vor allem auf die Sozialpolitik, insbesondere die Sozialarbeit. Verständlich, wenn man bedenkt, wie spät sich die Universitäten den Frauen öffneten und die politisch aktive Generation vor allem aus sozialen Berufsfeldern kam. Es handelte es sich aber auch um ein Stück Selbstbeschränkung, insbesondere der Abgeordneten aus dem bürgerlichen Lager, die damit ihrer "weiblichen" Bestimmung zu folgen glaubten. Selbst prominente SPD-Abgeordnete wie die Gründerin der Arbeiterwohlfahrt und erste Rednerin in einem deutschen Parlament, Marie Juchacz, verfolgten in der parlamentarischen Arbeit weniger die rechtliche Gleichstellung als vielmehr Frauenschutzrechte: Mutterschutz, Mindestlöhne oder die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Dabei gingen sie auch Bündnisse mit den Vertreterinnen aus dem bürgerlichen Lager ein, eine frühe Probe auf heutige interfraktionelle Koalitionen in Sachfragen.

Uncoole Quote

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieben Politikerinnen auf das soziale Feld beschränkt und konnten es wie Elisabeth Schwarzhaupt höchstens zur Gesundheitsministerin bringen, ein Amt, das damals noch nicht im politischen Brennpunkt stand. Interessanterweise waren es zunächst FDP-Frauen wie Hildegard Hamm-Brücher oder Irmgard Adam-Schwaetzer - sie war die erste Generalsekretärin einer etablierten bundesdeutschen Partei -, die diese Einhegung durchbrachen. Dass ausgerechnet zu der Zeit, als sich im Anschluss an die 68er-Bewegung die Neue Frauenbewegung ausbildete und Willy Brandt die erste sozialliberale Koalition installierte, der Frauenanteil im Bundestag auf den historischen Tiefpunkt von 5,6 Prozent sank, gehört zu den noch aufklärungsbedürftigen Tatsachen der Nachkriegsgeschichte.

Immerhin ging von dieser radikal sich absetzenden Frauenbewegung der Impuls aus, in der 1980 gegründeten grünen Partei neue Partizipationsmaßstäbe zu setzen. Mit der Frauenquote haben die Grünen möglicherweise nachhaltigere Geschichte geschrieben als mit dem ohnehin brüchig gewordenen Atomausstieg. Denn gleichgültig, ob man das Instrument als nur formales ablehnt, "Quotenfrauen" heutzutage als "uncool" gelten und die weibliche Präsenz im Bundestag keineswegs für eine emanzipatorische Politik bürgt: Alleine schon der Umstand, dass zuerst die SPD 1987 und dann, wenn auch in höchst abgeschwächter Form die Union mit einer Quotierung nachziehen mussten, um ihre Parteifrauen bei der Stange zu halten, verweist auf deren politische Sprengkraft und zwang die Männer dazu, die Macht mit Frauen zu teilen.

Natürlich hat keine Quote Angela Merkel zur Kanzlerin gekürt, und die Quote wird auch keine Bundespräsidentin ins Amt setzen. Aber sie hat das einst Undenkbare - dass überhaupt eine Frau an die Spitze des Staates rückt - wahr gemacht. Und wenn heutzutage ausgerechnet eine konservative Frauenministerin sozialdemokratische Vorbilder wie das schwedische Erziehungsgeld beleiht, um - demographische Kalkulation hin oder her - Frauen und Männer "zum Kind" zu bringen, spricht daraus entfernt der Geist jener radikal-bürgerlichen Frauen um 1900, die wie eine Käthe Schirrmacher Familienarbeit als gesellschaftliche Aufgabe sahen.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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