Wer es noch nicht kapiert hat: Die Pandemie trifft nicht alle mit derselben Wucht. Spätestens ein Jahr nach den ersten Covid-19-Fällen, die damals von besser situierten Urlaubsreisenden ins Land getragen worden und vom Odium des Gleichmacherischen begleitet waren, wissen wir, dass Armut, Infektionsrisiko und sekundäre, auch unbeabsichtigte Lasten von Infektionsschutzmaßnahmen negativ ineinandergreifen. Wer vorher schon wenig verdient hat, ist noch ärmer geworden, wer vorher gesundheitlich gefährdet war, dem wird das Virus zum größten Feind, und wer in einer Umgebung lebt oder aufwächst, in der die Luft schlecht ist, die Wohnverhältnisse beengt sind und die familiären Unterstützungssysteme beschränkt, wird zum „Kollateralschaden“ der Pandemie. Knapp ein Sechstel aller Deutschen musste laut dem noch ausstehenden Armutsbericht der Bundesregierung bis August 2020 Einkommenseinbußen hinnehmen. Geringverdiener sind dabei am stärksten betroffen, fast ein Drittel der Menschen mit besonders niedrigen Einkommen hat seit Beginn der Pandemie Probleme, laufende Ausgaben zu decken.
Das Narrativ von Solidarität und globalem Handeln bricht sich – nicht nur in Bezug auf Impfstoffe – längst an einer Realität, in der Gewinnerwartungen triumphieren. Aber nicht nur in den Ländern des Südens, die in der Versorgungskette ganz hintenan stehen, manifestiert sich die Ordnung der Ungleichheit in der Pandemie. Auch in den Industriestaaten entwickelt sie mancherorts eine dramatische Dynamik, wenn eine ungünstige Bevölkerungszusammensetzung, schlechte Umweltbedingungen und Arbeitsverhältnisse sowie eine unzureichende Versorgung aufeinandertreffen.
In Großbritannien etwa, wo viel mehr Erhebungen zur Ungleichheitslage verfügbar sind (der Freitag 11/2021), lässt sich schon am Beispiel der Spanischen Grippe 1918 oder der Schweinegrippe 2009/10 belegen, dass Menschen unterer sozialer Schichten ein zweimal höheres Sterberisiko haben. Von Covid-19 ist der arme Norden doppelt so stark betroffen wie der reichere Süden, und insgesamt gibt es immer mehr „deprived areas“, benachteiligte Gegenden. Auch in Schweden haben Menschen mit geringer Bildung und niedrigem Einkommen ein erhöhtes Risiko, an Covid-19 zu sterben. Solche Befunde, die letzte Woche auf dem einschlägigen Kongress „Armut und Gesundheit“ verhandelt wurden, nehmen in den Blick, was Politiker:innen hierzulande so ungern hören: Das Wohlstandsgefälle hat tödliche Wirkungen.
Aber diese glauben ja immer noch, im Standortinteresse Betriebe offen halten zu können, um etwa die deutsche Exportwirtschaft zu sichern. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Arbeit, Mobilität und Infektionsgeschehen offensichtlich, alle Regionen in Europa mit hoher Erwerbsquote weisen hohe Inzidenzwerte auf. Das gilt insbesondere dann, wenn Arbeitnehmer auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, gleichzeitig mehrere Jobs haben und möglicherweise noch anderen Risikofaktoren – Luftverschmutzung beispielsweise, die Lungenerkrankungen fördert – ausgesetzt sind. Gar nicht zu reden von den Gruppen, die aufgrund ihrer Hautfarbe ohnehin benachteiligt sind. In den USA wird die schwarze Bevölkerung – auch aufgrund von Vorerkrankungen – dreimal so häufig wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingewiesen und hat ein doppelt so hohes Risiko, daran zu sterben, wie Weiße.
Global, lokal, antiviral
Eine für Deutschland seltene Erhebung stellte Michail Khor vor, der in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut russischsprachige drogenabhängige Menschen zwischen 20 und 60 Jahren in Berlin über ihre Situation während der Pandemie befragt hat. Fast ein Drittel ist obdach- oder wohnungslos, viele sind gar nicht krankenversichert, und insbesondere während der ersten Pandemiewelle, als Beratungsstellen und Übernachtungseinrichtungen geschlossen waren, fielen sie durch alle Netze. Gerade solche Betroffenengruppen müssten – wie prekär Beschäftigte in Risikobereichen – in der Impfrangfolge eigentlich ganz vorne stehen, sie werden jedoch nicht erfasst, weil es an Handys fehlt oder sie, wie Khor berichtete, gegenüber westlichen Impfstoffen misstrauisch sind.
Dass der darniederliegende öffentliche Gesundheitssektor in der Pandemie zum Lackmustest des gesamten Systems geworden ist, streiten mittlerweile nicht einmal mehr die hartgesottensten Sparkommissare und Privatisierungsfanatiker ab. Wenn es eine Lehre aus der Pandemie gibt, dann die, dass Public Health keine Kür ist, sondern essenziell alle Lebensbereiche betrifft und – vielleicht ähnlich wie beim Gender-Mainstreaming – von jedem Ressort, von jeder Institution in den Blick genommen werden muss. Public Health sei globale Gesundheit vor Ort, umschrieben es die Autoren eines Eckpunktepapiers, in dem die wesentlichen Aufgaben erfasst werden, von der Erhebung aussagekräftiger Daten über Präventionsstrategien bis hin zur ausreichenden Finanzierung dieses Bereichs, der viel mehr umfasst als nur die Gesundheitsämter.
So weit, so allgemein gibt es seitens der befragten Politiker:innen kaum Einwände. Eine „embryonale Wahrnehmung“ konstatierte der FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann sogar gegenüber den uns bevorstehenden Klima- und Gesundheitskrisen. Er forderte einen „Staatsminister für globale Gesundheit“ und eine bessere Verteilung der jährlich umgesetzten 400 Gesundheitsmilliarden. Bis September passiert nichts mehr. Nach dem Kassensturz für neue Weichenstellungen zu sorgen, wäre eine Herkules-Aufgabe, die nicht nur dem Gesundheitsressort auferlegt werden sollte.
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