Daten als Doktor

Gesundheitssystem Jens Spahn will alles digitalisieren, was bei drei nicht auf den Bäumen ist
Jedes einzelne Gesetz aus dem Hause Jens Spahn steht künftig unter der Prämisse Digitalisierung
Jedes einzelne Gesetz aus dem Hause Jens Spahn steht künftig unter der Prämisse Digitalisierung

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Manches ist wirklich nicht mehr zeitgemäß im deutschen Gesundheitssystem. Beispielsweise dass Akten zwischen Krankenhäusern und Abrechnungszentren auf der Straße hin- und hertransportiert werden müssen. Dass Pflegekräfte und andere Bedienstete in Pflegeeinrichtungen immer wieder händisch die gleichen basalen Daten aufnehmen müssen, um Medikamente auszuteilen, den Essensplan zu erstellen oder Hilfsmittel anzufordern, weil es an standardisierten Schnittstellen und Prozessen fehlt. Es ist auch nicht wirklich überzeugend, dass Pflegeschülerinnen oder Nachtpflegekräfte dafür abgestellt werden, im Krankenhaus Pillen zu richten. Ob Radiologen oder Pathologen tatsächlich von intelligenten Robotersystemen ersetzt werden können, steht dahin, aber es gibt sicher viele, wenig qualifizierte, langweilige und zeitaufwendige Aufgaben in der ambulanten und stationären Versorgung, die durch Digitalisierungssysteme ersetzt werden könnten, um die immer weniger zur Verfügung stehenden Beschäftigten gut auszubilden und sinnvoll einzusetzen.

Was Sechstklässler wollen

Der diesjährige Hauptstadtkongress „Medizin und Gesundheit“ stand im Zeichen dieser Digitalisierung und hatte sich zur Eröffnung ungewöhnliche Kombattanten gesucht, eine 6. Klasse des Grauen Klosters in Berlin. Deren Schülerinnen und Schüler erklärten, wie sie sich das zukünftig vorstellen. Nicht mehr im Wartezimmer beim Arzt sitzen und sich dabei Keime einfangen, Videosprechstunden, ein E-Rezept, Gesundheits-Apps und, ja, vielleicht auch „so ein Roboter“ daheim. Die Video-Einspielungen der Kinder waren der mit Abstand unterhaltsamste Teil dieses seit 22 Jahren von dem ehemaligen Gesundheitssenator Ulf Fink (CDU) und seiner Frau Ingrid Völker ausgerichteten Kongresses, bei dem es früher mal richtig knisterte zwischen Ärzteschaft, Pflegenden und anderen Playern, der inzwischen aber offenbar nur noch eingetaktet ist auf die Agenda von CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn.

Dieser präsentierte nicht zufällig just zu diesem Termin sein mehr als 70-seitiges Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG, früher: E-Health-Gesetz II) und machte so richtig Dampf. Als Paukenschlag stellte er in Aussicht, dass Gesundheits-Apps künftig von der Krankenkasse bezahlt werden müssen, und zwar unter Umgehung des Gemeinsamen Bundesausschusses, der normalerweise entscheidet, was in den Kassenkatalog gelangt. Der heftige Konflikt, der in den vergangenen Monaten zwischen Spahn und der Selbstverwaltung – also gesetzlichen Krankenkassen, Leistungserbringern und Patienten – ausgebrochen ist, war auch beim bald darauf folgenden Deutschen Ärztetag ein Thema.

Die Drohkulisse, die Spahn zur Kongress-Eröffnung aufbaute, ging aber noch weiter. Er sei gewillt, auch andere Blockaden der Selbstverwaltung zu brechen: „Wenn es 15 Jahre nicht geklappt hat, muss der Minister ran und entscheiden“, zeigte er den Hammer und meinte damit die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und Patientenakte. Dafür hat das Ministerium die für die Gesundheitskarte zuständige Betreibergesellschaft gematik schnell mal mit 51 Prozent Beteiligung in Obhut genommen, um „durchzuregieren“. Hatte Spahn die Ärzteschaft kürzlich schon mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz ins Korsett gepresst, bundesweit Psychotherapeuten aufgeschreckt und die Abgeordneten im Bundestag mit immer neuen plötzlichen Änderungen genervt, nimmt er nun wieder die Leistungsanbieter ins Visier, die heftige datenschutzrechtliche Bedenken gegen elektronisch kursierende Patientendaten haben oder nicht willens sind, Patienten über den Bildschirm zu behandeln. „Wir nehmen diesen Widerstand der Ärzte nicht einfach hin“, erklärte Spahn und schickte gleich zwei hochrangige Vertreter seines Ministeriums auf dem Kongress ins Rennen, um die digitale Trommel zu rühren.

Das deutsche Gesundheitssystem könne kein gallisches Dorf in einer digitalen Welt bleiben, so die Kampfansage des Leiters der neuen Unterabteilung gematik. Jedes einzelne Gesetz aus dem Hause Spahn – und geizig ist es mit Gesetzen wirklich nicht – stehe künftig unter der Prämisse Digitalisierung. Während aber viele Akteure betonten, dass Digitalisierung vor allem dem Patientenwohl verpflichtet sei, wie etwa Wolfgang Matz von der Kaufmännischen Krankenkasse, der sogar eine ganze Agenda aufsetzte, um Patientendaten vor dem Gewinnstreben von Unternehmen zu schützen, scheint das in anderen Zusammenhängen nicht ganz so sakrosankt. „Künstliche Intelligenz“, betonte der Medizin-Informatiker Roland Eils vom Berliner Institut für Gesundheitsforschung, „benötigt große Datenmengen“ und dürfe nicht von einem „überzogenen Datenschutz“ behindert werden. Von „restriktivem Datenschutz in Deutschland“ war auch in vielen anderen Veranstaltungen zu hören.

Doch die per Wearable am Arm aufgezeichneten oder im Rahmen der elektronischen Patientenakte verfügbaren Daten – nach dem Willen Spahns künftig ausgiebig von der Versichertengemeinschaft gesponsert – sind das Gold des 21. Jahrhunderts. Die Begehrlichkeiten nach „Big Data“ sind enorm, seitens der Forschung, der industriellen Verwerter und auch derer, die im Gesundheitssystem unterwegs sind. Handeln wir fahrlässig, wie Eils behauptet, wenn wir diese Gesundheitsdaten nicht erfassen, aufgrund eines „zu großen Willens zur Datensicherheit“? Oder exponieren wir uns fahrlässig, wenn wir Derartiges einfach bereitstellen, immer mit Blick auf das allerseits aufgerufene „Patientenwohl“, aber ohne Kontrolle, was in Zukunft damit passiert? Entlegenste Daten können korreliert und rekombiniert werden, lassen Musteraussagen über unseren Gesundheitsstatus oder Lebensstil zu. Das hat auch Folgen für die Forschung. Statt dass man mit Hilfe reproduzierbarer Experimente Kausalitäten findet, werden zufällige statistische Zusammenhänge, blind für Fehler, für „evident“ erklärt.

Dies alles sind Fragen, die in einer umfangreichen, vor einem Jahr veröffentlichten Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zu „Big Data“ zumindest angerissen werden. Auf dem Hauptstadtkongress war davon wenig oder gar nichts zu hören. Aber immerhin rafften sich einige Bundestagsabgeordnete auf, gegen das neueste Spahn-Gesetz zu intervenieren – denn weil der Minister wieder mal so hektisch unterwegs ist, können Patienten in der ersten Phase der nun verordneten Einführung der elektronischen Patientenakte nicht einmal darüber entscheiden, was an Daten der jeweilige Arzt zu sehen bekommt.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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