Der letzte Schritt

Sterbehilfe Der Umgang mit dem Ende des Lebens soll neu geregelt werden. Aber Ärzten den Giftbecher in die Hand zu drücken, ist keine Lösung
Ausgabe 37/2014

Er habe nicht sterben wollen, schrieb der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf in seinem Internettagebuch, das nach seinem Freitod auch als Buch erschien. Es sei ihm aber immer darum gegangen, das Leben selbst in der Hand zu haben. Das sei ein notwendiger Bestandteil seiner Sozialhygiene gewesen. Das Leben in der eigenen Hand zu haben, ist das größte Versprechen moderner, aufgeklärter Gesellschaften. Es ist die ultimative Herausforderung an das selbstbewusste Individuum – und vielleicht auch die größte Zumutung, wenn das Leben an seine existenziellen Randzonen gerät.

Während der eine sich wie Herrndorf eine Pistole verschafft, um seinem Leben ein Ende zu setzen, überantworten sich andere der Obhut eines Hospizes und einige wenige fahren vielleicht in die Schweiz, um das Werk einer Sterbehilfeorganisation zu überlassen. Und wieder einmal wird die Forderung laut, man sollte den Lebensüberdrüssigen, ob sterbenskrank oder einfach nur entmutigt, diesen Weg ersparen und in Deutschland den ärztlich assistierten Suizid erlauben.

Seit Anfang des Jahres ist in Deutschland eine neue Diskussion über die Sterbehilfe entbrannt. In diesem Herbst wird sich der Bundestag mit dem Thema beschäftigen und voraussichtlich über verschiedene weltanschaulich orientierte Gruppenanträge entscheiden. Nicht zum ersten Mal, denn die in den vergangenen acht Jahren ausgearbeiteten Gesetzesvorlagen füllen dicke Ordner. Wir stehen mit dieser Diskussion nicht allein da: Belgien hat im Februar die Sterbehilfe für Minderjährige legalisiert und dafür heftigen Protest geerntet. In Frankreich hat die Schriftstellerin Emmanuèle Bernheim, die ihren Vater zum Sterben in die Schweiz begleitete, eine grenzübergreifende Sterbehilfedebatte ausgelöst. Und im Juni intervenierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Fall eines französischen Komapatienten, dem Ärzte zum Sterben verhelfen wollten.

Hierzulande wiederum steht der Prozess gegen den ehemaligen Hamburger Justizsenator und Sterbehilfe-Befürworter Roger Kusch bevor, dem vorgeworfen wird, entgegen den Prinzipien seines Vereins aktive Sterbehilfe geleistet zu haben. Dass jüngst der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, bekannt hat, dass er auch entgegen eigenen christlichen Überzeugungen seine krebskranke Frau in die Schweiz begleiten würde, hat die Diskussion zusätzlich befeuert – nicht nur in Kirchenkreisen.

Im Kern geht es um die Diskrepanz zwischen einer Bevölkerung, die nach Umfragen mehrheitlich für eine Liberalisierung der Sterbehilfe ist, und Politikern wie Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), der jegliche geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung unter Strafe stellen will. Stellt sich da ein aufgeklärtes Volk gegen seine ignoranten Vertreter? Hat es mehr Einsicht in die Würde des Sterbens als die beruflich damit befassten Ärzte, denen es, so der Unterton, nur darum ginge, ihre Definitionsmacht gegenüber den Bürgern zu verteidigen? Bürgern, die ihre Patientenautonomie entdeckt haben und auch im Sterben noch selbstbestimmte Kunden bleiben wollen?

Die gegenwärtige Debatte vermittelt den Eindruck, als wollten Politiker und Ärzte diese Bürger um jeden Preis an das Leben ketten. Doch das ist mitnichten der Fall. Ihr Augenmerk gilt nicht nur den Sterbewilligen, sondern eben auch den Überlebenden, die genötigt werden, als Komplizen beim Sterben zu fungieren. Gefragt, ob ihrem Vater klar gewesen sei, was er ihr zumute, antwortet Bernheim, sie sei sicher, dass er sich darüber keinen Moment Gedanken gemacht habe. Ihm sei es nur um die Freiheit gegangen, die Entscheidung über Leben und Tod selbst zu treffen.

Dass es Menschen, die wie Bernheim das Glück hatten, ein Leben lang über sich selbst frei zu entscheiden, schwerfällt, sich in existenziellen Abhängigkeiten zu imaginieren, ist leicht nachzuvollziehen. Kontrollverlust ist das glatte Gegenteil von derart verstandener Autonomie. Doch wie autonom ist es, sich das todbringende Mittel von Dritten reichen zu lassen? „Es sind nur wenige“, hält Franz Müntefering den Befürwortern ironisch entgegen, „die sich diesen Weg trauen, die Klugen, Sensiblen, Stärksten. Sollen die Trottel und Idioten doch hinvegetieren. Welche Arroganz.“ Die Entscheidung für Sterbehilfe als soziales Distinktionsmerkmal. Doch Selbstbestimmung ist kein Gut, das sich bloß am souveränen, materiell abgesicherten und intellektuell versierten Menschen orientieren darf. Das Recht auf Selbstbestimmung muss auch für die Schwachen, nicht (mehr) Nutzen bringenden Menschen gelten. Und sie müssen auch davor geschützt werden, dass sie zum Tod genötigt werden.

Auch wenn sich einige wenige Palliativmediziner mittlerweile für die Sterbehilfe aussprechen, wissen doch die meisten Ärzte, die mit vordergründig Sterbewilligen zu tun haben, woran es eigentlich mangelt: An ausreichender medizinischer Versorgung, an Zeit und an Empathie für betroffenen Menschen. Den Ärzten einfach den Giftbecher in die Hand zu drücken, ist ein falscher Weg, aber das Strafrecht ist auch keine Lösung.

In einer für die Bundeskanzlerin ungewöhnlichen Klarheit hat sich kürzlich Angela Merkel, die sich sonst doch einig mit ihrem Volk weiß, für eine restriktivere Sterbehilferegelung ausgesprochen. Es könnte ein spannender Herbst werden.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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