Der Schnitt in die Menschheit

Ethik Wann darf eigentlich in Körper eingegriffen werden? 2019 diskutiert der Bundestag über Organspende, Abtreibung und pränatale Tests
Ausgabe 01/2019

Der Zeitpunkt war so genau gewählt wie die Empörung danach berechenbar: Einen Tag vor dem Zweiten Internationalen Gipfel zum „Human Genome Editing“, zur Chirurgie am menschlichen Genom, Ende November in Hongkong trommelte der chinesische Genetiker He Jiankui die Wissenschaftswelt zusammen, um wieder einmal einen „Tabubruch“ zu reklamieren. Sein Team, behauptete er, habe mittels der Genschere CRISPR/Cas9 das Gen CCR5 so verändert, dass es eine HIV-Infektion verhindere. Insgesamt sieben Frauen mit HIV-infizierten Partnern, die er in einer Selbsthilfegruppe fand, habe er einen so veränderten Embryo eingepflanzt. Eine der Frauen habe Zwillinge geboren. Lulu und Nana gelten seither als die ersten Menschen, deren Genom durch menschlichen Eingriff gezielt verändert wurde – die ersten „Designer-Babys“. Der Eingriff an der Keimbahn ist irreversibel, die veränderten Eigenschaften vererben sich von Generation zu Generation.

Ob das alles den Tatsachen entspricht, kann noch nicht wissenschaftlich überprüft werden, denn He hat bislang keine entsprechende Studie veröffentlicht. Er hat jedoch im Vorfeld eine Studie in Auftrag gegeben, die die Nachfrage in China dokumentieren sollte. Die empörten Reaktionen ließen nicht auf sich warten. 122 chinesische Forscher verfassten ein Schreiben, in dem sie sich gegen derartige „verrückte Experimente am Embryo“ aussprachen und auf die Risiken von Genmanipulationen verwiesen. Sogar die chinesischen Aufsichtsbehörden wurden tätig und ordneten eine Untersuchung des „unethischen“ Forschungstreibens Hes an, das, wie verlautet, das weltweite Ansehen der gesamten chinesischen Biotechnologie gefährde. Die Entdeckerin der Genschere, Emmanuelle Charpentier, sprach von einer „roten Linie“, die He überschritten habe, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, bezeichnet das Unternehmen als „unverantwortlichen Menschenversuch“.

Wissenschaft der bösen Buben

Der Fall hat das typische Muster vorgeführt, nach dem solche „Tabubrüche“ inszeniert werden, und wie auf sie reagiert wird. Meistens preschen wissenschaftliche Außenseiter vor, wie einstmals der Veterinärmediziner Hwang Woo-suk, dessen angebliche Klon-Experimente mit menschlichen Stammzellen sich als Wissenschaftsfälschungen herausstellten. Und oft genug haben sie auch kommerzielle Interessen, wie He, der gleichzeitig Inhaber eines Biotech-Unternehmens ist. Die „bösen Buben“ sorgen für die nötige Skandalisierung, in deren Windschatten die seriöse Forschung segelt. Ihr nimmt die Öffentlichkeit ab, dass sie mit neuartigen Methoden wie der Genschere ausschließlich menschenfreundliche Ziele verfolge: im Fall von veränderten Pflanzen die Sicherung der Welternährung, im Fall von genetischen Eingriffen am Menschen die Ausmerzung von Krankheiten.

Dass mit der inkriminierten Grenzüberschreitung immer auch kleinere Grenzverschiebungen der gesamten Forschung einhergehen, wird erst deutlich, wenn öffentliche Debatten und gesetzgeberische Maßnahmen die Wissenschafts-Community in Verteidigungsstellung oder unter Beweiszwang bringen. Dabei tritt die Freiheit der Forschung als Verfassungsgut regelmäßig in Konkurrenz mit anderen Verfassungsgütern wie etwa dem Selbstbestimmungsrecht, der Patientenautonomie oder dem Recht auf Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen. Welche faulen Kompromisse der Gesetzgeber dann gewillt ist einzugehen, war exemplarisch 2002 zu verfolgen, als der Bundestag beschloss, die Forschung an embryonalen Stammzellen zwar zu erlauben – jedoch nicht deren Herstellung, sondern nur ihren Import aus anderen Ländern. Damit war das ethische Gewissen beruhigt, ohne sich mit der Forschungslobby anlegen zu müssen.

Das Jahr 2019 könnte in dieser Hinsicht zum Lackmustest werden. Im Bundestag stehen verschiedene ethische Debatten an: Zum Strafrechtsparagrafen 219a, der die ärztliche Information über den Schwangerschaftsabbruch verbietet und für dessen Neuregelung die Regierung einen fragwürdigen Kompromiss auf den Weg gebracht hat. Außerdem zum pränatalen Bluttest (Praena-Test) sowie zur Widerspruchsregelung bei Organspenden, die Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bis Mitte des Jahres zur Entscheidung auf die Tagesordnung des Bundestags setzen möchte.

Nimmt man die straff organisierte, „Orientierungsdebatte“ genannte Aussprache im Bundestag Anfang November zum Maßstab, dürfte Spahn es schwer damit haben, für Letztere eine Mehrheit zusammenzubekommen. Denn außer ihm selbst und seinem Gesundheitskollegen von der SPD, Karl Lauterbach, sprach sich von den 38 Rednern lediglich Petra Sitte von den Linken dafür aus, den Bürgern zuzumuten, einer Organspende explizit widersprechen zu müssen. Viele Abgeordnete brachten die Freiwilligkeit einer Spende ins Spiel und die Bedenken der Datenschützer. Momentan sieht es eher so aus, als liefe die Abfrage im Frühsommer ebenfalls auf einen Kompromiss hinaus: Dann würde man regelmäßig nach der Bereitschaft zu einer Organspende gefragt werden, etwa wenn man den Personalausweis verlängert oder einen Führerschein beantragt.

Was das mit der Forschung zu tun hat? Eine ganze Menge. Die Grenzverschiebung der vergangenen 30 Jahre lässt sich nämlich recht gut am Vergleich der Debatten ablesen, die anlässlich des Transplantationsgesetzes in den späten 80er Jahren geführt wurden, und dem, was inzwischen im Bundestag abgeliefert wird. Wie leidenschaftlich wurde damals darüber gestritten, ob der Hirntod – Voraussetzung für eine Organspende – der Tod des Menschen sei. Und obwohl dies alles andere als eine wissenschaftlich erledigte Frage ist – eher im Gegenteil, denn die immer präziseren Aufzeichnungstechniken in der Medizin lassen dieses Konstrukt mehr denn je als solches erscheinen –, spielte sie vergangenen November überhaupt keine Rolle. Vielmehr wird von den Abgeordneten der Radius der Begehrlichkeiten ausgeweitet. Selbst jene, die der Widerspruchslösung kritisch gegenüberstehen, machen sich zum Anwalt der Patienten auf der Warteliste. Es ist eine Frage der Zeit, bis auch hierzulande über das diskutiert wird, was in Frankreich oder den Niederlanden bereits möglich ist: Organentnahme nach zehnminütigem Herz-Kreislauf-Stillstand.

Für Ethik nicht zuständig

Auch die im Sommer von einer Reihe von Abgeordneten angemahnte Diskussion über den Praena-Test zeigt Konturen einer solchen Grenzverschiebung. Es geht dabei um einen nicht invasiven Bluttest, der es ermöglicht, Föten mit der Genveränderung Trisomie 21 frühzeitig zu erkennen. Diskutiert wird, ob die gesetzlichen Krankenkassen für die Kosten des Tests aufkommen sollen. In einem Positionspapier hatten die Abgeordneten moniert, dass mit dem Bluttest die „Vermeidung“ von Kindern mit Down-Syndrom öffentlich gefördert werden könnte, wenn die Kassen den Test bezahlen. Der Gemeinsame Bundesausschuss, der darüber entscheidet, sieht sich für ethische Bedenken aber nicht zuständig.

Auf einer Pressekonferenz im Herbst hatte sich der CDU-Politiker Rudolf Henke, stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitsausschusses, mit Kolleginnen aller anderen Fraktionen (außer der AfD) gegen den Test gewandt. Die „Fortschritte in der genetischen Diagnose“, erklärte er, „zwingen uns als Gesellschaft dazu, die Frage zu beantworten, wie wir mit den dadurch erzeugten Erkenntnissen umgehen wollen“. Auch hier stellt die Molekularbiologie immer weitreichendere Testmethoden bereit, um unterschiedlichste Krankheitsbilder oder genetische Dispositionen aufzuspüren – ein ausweitbarer, lukrativer Markt.

Und hier schließt sich der Kreis zu Herrn He, der auszog, um „wundervollen Mädchen“, wie er schwärmt, eine mögliche HIV-Infektion zu ersparen, und dafür unabsehbare und nicht umkehrbare Veränderungen in der menschlichen Keimbahn in Kauf nimmt. In seinem Fall betrifft das die beiden Mädchen und ihre Nachkommen. Im Fall des Praena-Tests – wenn man nicht der radikalen Lebensschutzfraktion angehört – „nur“ die lebenden Menschen mit Behinderung, denen damit signalisiert wird, dass sie nicht (mehr) erwünscht sind.

Der Bluttest wirkt natürlich harmlos im Vergleich mit dem Schnitt ins menschliche Genom. Und Gerechtigkeitsgründe sprechen dafür, dass nicht nur jene Schwangeren, die es sich leisten können, den Test beanspruchen können. Aber es sind gerade diese minimal erscheinenden Grenzverschiebungen, die unser Bild vom Menschen verändern und den Grad der Interventionsbedürftigkeit – und der Verfügbarkeit – des Körpers ausweiten.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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