Kürzlich schlugen deutsche Klinikchefs Alarm: Ungenutzte OP-Kapazitäten, leere Betten, ganze Abteilungen, die dicht gemacht werden müssen, weil kein ärztliches Personal - vom PJ-ler bis zum Oberarzt - zur Verfügung steht. Die Misere ist hausgemacht, denn es gibt, zumindest derzeit, (noch) keinen Mangel an Ärzten und Ärztinnen. Vielmehr sind es die miesen Arbeitsbedingungen in den Kliniken - von der Bezahlung über die Arbeitszeiten bis hin zu den Tätigkeitsinhalten -, die Mediziner nach Alternativen suchen lassen, etwa in der freien Wirtschaft oder als ärztliche Berater. Dann gutachten teuer ausgebildete Chirurgen oder Anästhesistinnen für Versicherungen oder lassen sich ihr know how von Pharmafirmen gut dotieren. Nach den Gründen ihres Wechsels gefragt, beklagen sie übereinstimmend die überhand nehmenden Verwaltungstätigkeiten im Klinikalltag, die sie immer mehr von ihrer eigentlichen Aufgabe - dem Heilen - abhielten.
Wenn das vergangene Woche auch von den Ländern abgesegnete und von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt als "größte Klinikreform aller Zeiten" gefeierte Fallpauschalengesetz ab 2003 Wirklichkeit wird, werden Klinikärzte mehr denn je für administrative Tätigkeiten in Anspruch genommen werden. Denn statt wie bislang für Bettentage sollen die Krankenhäuser künftig nach Behandlung abrechnen, sogenannten Diagnosis Related Groups, kurz DRGs. Eine durchschnittliche Blinddarmoperation kostet dann in München so viel wie in Flensburg und wer sich einer Bypass-Operation unterzieht, soll in Berlin nicht länger ein Krankenhausbett blockieren als in einem Landkrankenhaus in Meckpom. Das führe, so die Ministerin und die Kassen, zu mehr Preistransparenz und Kostenentlastung, weil den Kliniken der Anreiz genommen werde, lange Liegezeiten anzuordnen. Und die Liegezeiten, mokieren Gesundheitsexperten, seien in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zu üppig.
Mit den DRGs hat Ulla Schmidt ein in Australien entwickeltes und in der Welt ziemlich einmaliges System in der Bundesrepublik eingeführt: Das Prinzip besteht darin, eine Krankheit und ihre Behandlung in tayloristischer Manier in möglichst kleine Schritte aufzuteilen und diese zu bewerten. Dieser durchschnittliche Pauschalsatz kann ergänzt werden, wenn etwa Vorerkrankungen vorliegen oder Komplikationen auftreten, soweit sie mit abrechenbaren Therapieschritten verbunden sind.
Eben diese Abrechenbarkeit ist ein Problem: Denn natürlich bringt eine apparateintensive Kernspintomographie mehr Geld, als eine zeit- und personalaufwändige Rehabilitations-Maßnahme, ganz abgesehen von der ärztlichen Zuwendung am Krankenbett, für die nun vielleicht gar keine Zeit mehr bleibt, weil die behandelnden Ärzte mit Verwaltungskram beschäftigt sind. Des weiteren könnten diese sich unter dem Kostendruck der Kliniken aufgefordert fühlen, Diagnosen zu stellen und Therapien zu verordnen, bei denen das Haus die maximale Fallpauschale herausholt. Der Spareffekt für die Krankenkassen, das monieren Kritiker schon jetzt, könnte auf diese Weise wieder geschluckt werden, ohne dass dies vom Patienten, der der ärztlichen Verordnung vertrauen müsse, beeinflusst werden könne.
Die Patienten und Patientinnen, so beruhigte die Ministerin während der Beratungen, müssten mit der fallpauschalen Abrechnung allerdings nicht fürchten, dass sie schlechter behandelt als zuvor oder krank aus der Klinik geworfen würden; doch man kann durchaus fragen, was passiert, wenn die Fallpauschale ausgeschöpft, der Patient aber immer noch behandlungsbedürftig ist. Dann nämlich wird er für das Krankenhaus zum reinen Kostenfaktor. Wird er dann einfach entlassen? Und durch eine Neuaufnahme zum neuen Fall, so dass - nicht im Sinne des Gesetzes - eine neue Pauschale abgerechnet werden kann? Oder überlässt man ihm seinem Schicksal und bürdet die Folgekosten anderen Trägern auf? Gibt es so etwas wie einen "Grenznutzen" für jede Krankheit, den zu überschreiten die Kliniken dann nicht mehr bereit sind?
Das Gesundheitswesen ist ein riesiger Markt, auf dem sich viel Geld verdienen lässt, weshalb an diesem "Grenznutzen" auch private Investoren interessiert sind. Die drohende Privatisierung der lukrativeren Teile des Gesundheitssektors - man denke nur an den aufstrebenden Markt der Repro-Medizin - steht derzeit auch im Mittelpunkt einer Kampagne von Attac unter dem Motto "Gesundheit ist keine Ware". Attac sieht in der Privatisierung des Gesundheitsmarktes eine Schnittstelle zu den globalen Entwicklungen, die dazu führten, dass der Mehrheit der Menschen gesunde Lebensbedingungen und Hilfe bei Krankheit vorenthalten würde, weil diese sich immer mehr nach der Zahlungsfähigkeit des Einzelnen richten.
Aus Interessen der Bestandssicherung argumentiert dagegen die Lobby der Klinikärzte, der vor allem die Budgetierung ein Stein des Anstoßes ist. Diese sieht vor, dass ein Krankenhaus nur eine vereinbarte Anzahl bestimmter Fälle erstattet bekomme - etwa 200 Blinddarmoperationen; überschreitet die Klinik dieses Budget, werden die Kosten nicht erstattet. Das führe auf der einen Seite nicht nur zu Wartelisten für die Patienten, sondern, so am Wochenende der Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, andererseits auch zu einer erheblichen Überlastung der Ärzte, weil die Krankenhäuser natürlich bestrebt seien, die zu vereinbarenden Fallzahlen in die Höhe zu treiben.
Wenn es möglich wäre, medizinische Leistungen wie in anderen Industrien auch nach ihrem "output" zu honorieren - das heißt nach dem hergestellten Quantum von "Gesundheit" - würde es im Gesundheitswesen um einiges anders aussehen, weil dann etwa Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen, die den verschiedenen Gesundheits"reformen" der letzten 20 Jahre zum Opfer fielen, einen ganz anderen Stellenwert hätten. Aber auch die krude volkswirtschaftliche Bilanz ergäbe, dass es viel billiger ist, in vorbeugende Therapien zu investieren, als am Ende in teure Apparate- und OP-Medizin. Eine solche Bilanz allerdings setzte voraus, dass es nicht private Aneigner gäbe, die an der teuren Krankheit kräftiger verdienen, als an der aufwändigen Herstellung und Erhaltung von Gesundheit. Der Wert der "Ware Krankheit" ist eben - wenn auch in anderer Weise als der Wert der Ware Arbeitskraft - von besonderer Art; soweit sich Krankheit überhaupt wertmäßig messen lässt, verdeckt er, dass es die Gesundheit ist, die besondere Wertschätzung verdient.
Der Wert der Ware Krankheit
Geschrieben von
Ulrike Baureithel
Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)
Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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