Deutschland hustet: Und der Weg bis ins Krankenhaus ist oft weit
Gesundheit Eine Welle von heftigen Atemwegsinfekten bringt das auf Profit getrimmte deutsche Gesundheitssystem an seine Belastungsgrenze. Gerade die Orte zur Behandlung der Jüngsten sind überlastet. Warum das ein Problem ist, weiß unsere Autorin
Sechs Kinderarztpraxen hat Verena S. vergangene Woche in Berlin anrufen müssen, bis ihr heftig hustendes Kind endlich versorgt wurde. „Überall wurde ich abgewiesen, es war schrecklich. Schließlich musste ich mit dem kranken Kind lange durch Berlin fahren“, erzählt sie. Ins Krankenhaus habe sie sich mit ihrer fünfjährigen Tochter nicht getraut. Vielleicht hätten die gesagt, so was Banales. Und die langen Wartezeiten. Die Kinderambulanzen und -stationen sind derzeit hoffnungslos überfüllt, Betten knapp. Fast überall in der Republik, wie Presseberichte belegen. Selbst Kleinkinder, ist zu lesen, müssen in über mehr als hundert Kilometer entfernte Krankenhäuser verlegt werden.
Es gibt aber auch ältere Kinder, die e
der, die es erwischt. Lena steht kurz vor dem Abitur, eine Klausur nach der anderen – und ständig krank: Halsschmerzen, Nase zu, Kopf dicht, Ohrenschmerzen. Inhalieren, Hausmittel. Manchmal geht es wieder für ein, zwei Wochen, dann ringt ein neuer Virus sie nieder. „Ich habe überhaupt kein Immunsystem mehr!“, klagt sie. Stimmt nicht. Dazu später.Von der Auseinandersetzung um die Masernimpfung einmal abgesehen, ist die Kinderheilkunde eines der vernachlässigten Stiefkinder der immer stärker kommerzialisierten Medizin. Im Windschatten von Corona hatten die Pädiater:innen 2021 schon einmal Alarm geschlagen, viel passiert ist aber nicht. Nun steht die Kinderheilkunde plötzlich im Fokus, weil sie die künftigen Leistungsträger:innen unter ihren Fittichen hat. Denen geht es dort gerade überhaupt nicht gut. Von „Durchschleusen“ ist unter Kinderärzten die Rede, wenn sie nach der aktuellen Versorgung gefragt werden, von „Katastrophe“. „Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“, so stellvertretend der leitende Oberarzt der Kinderintensivmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover. Die Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) rechnete vor, dass in den in Deutschland existierenden 110 Krankenhäusern, die Kinderintensivbetten betreiben, 40 Prozent nicht nutzbar sind, von 607 Betten verstauben 240 möglicherweise lebensrettende Plätze unter Plastikmüll.Vor allem Kinder sind betroffenWährend der Corona-Pandemie waren es die Alten und Kranken. Jetzt sind es die Kinder. Der Begriff vulnerabel, bis vor drei Jahren noch medizinischer Fachjargon, ist in den Alltag eingewandert und hat ein Gesicht. Momentan ist es das von um Atem ringenden Kindern, die sich das „Respiratorische Synzytial-Virus“ (RSV) eingefangen haben, eine von mehreren derzeit kursierenden Atemwegserkrankungen. RSV greift insbesondere die Jüngsten an und ist für Frühgeborene und Kinder mit chronischen Lungenvorerkrankungen hochgefährlich.Fast zehn Prozent der Bevölkerung waren vergangene Woche von akuten Atemwegsinfekten betroffen. Doch unter Kita- und Schulkindern und jungen Erwachsenen verzeichnete die Arbeitsgemeinschaft Influenza einen besonders hohen Anstieg. Die Welle setzte in diesem Jahr schon im September ein, und es ist damit zu rechnen, dass sie bald mit einer seit drei Jahren ausgebliebenen und galoppierenden Grippewelle, die die Südhalbkugel schon hinter sich hat, einhergeht. Mit Entwarnung ist so bald also nicht zu rechnen.Über die Gründe, warum Atemwegsviren gerade in diesem Jahr so früh und massenhaft zuschlagen und vor allem Kinder angreifen, wird nun viel spekuliert. Corona, heißt es unisono, auch wenn die Erklärungen je nach Perspektive höchst unterschiedlich ausfallen. Evident ist, dass die Pandemie die Saisonalität anderer Infektionserkrankungen tüchtig durcheinandergewirbelt und den normalen Rhythmus unterbrochen hat. Schon im vergangenen Jahr trat RSV bereits im August auf. Das Fachmagazin Spektrum, das sich ausführlich mit der außerordentlich hohen Infektionsrate bei Kindern beschäftigt hat, kommt zum Schluss, dass vor allem die ausgefallenen Ansteckungen durch die Kita- und Schulschließungen Grund für die derzeitige Infektionslage sind. Dadurch, wird der Münchener pädiatrische Infektiologe Johannes Hübner zitiert, seien auch Kinder, die in den ersten Lebensjahren normalerweise eine schwer verlaufende Erstinfektion durchmachen und sich oft bei ihren etwas älteren Geschwistern anstecken, nun weniger vor dem RSV-Virus geschützt. Was gerade als Welle anrollt, betreffe nicht nur einen einzigen Jahrgang wie üblich, sondern alle seit der Pandemie Neugeborenen. Da diese inzwischen bereits zwei oder drei Jahre alt sind, birgt RSV allerdings auch weniger Risiken.Möglicherweise könnte auch die sinkende Immunität der Erwachsenen auf die Kinder durchschlagen. Oder das Fallen der Masken im öffentlichen Raum, das Infektionen begünstigt. Erwachsene erkrankten in der Regel nur leicht an RSV, tragen das Virus jedoch weiter, analysiert die Epidemiologin Berit Lange vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. „Eine weitere Erklärung wäre, dass die Dynamik der Welle so hoch und so schnell ist, dass dieses Jahr auch jüngere Kinder erreicht werden, die sich normalerweise nicht anstecken.“Dennoch ist die Vorstellung, dass man notwendigerweise mit krank machenden Viren in Kontakt kommen sollte, um das Immunsystem zu „trainieren“, falsch. „Das Immunsystem ist kein Muskel, der, eine Zeit lang nicht beansprucht, weniger gut funktioniert“, erklärt der Immunologe Carsten Watzl vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung. „Das heißt, es ist während der Corona-Zeit auch nicht insgesamt geschwächt worden.“Eine sogenannte Immunschuld – also ein Konto, das abschmilzt und das man jedes Jahr wieder aufladen muss – gibt es also nicht. Doch das nehmen manche zum Anlass, erneut die vorangegangenen Corona-Maßnahmen zu kritisieren. Die Kinder seien heute fahrlässig einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt, so das Argument, weil ihnen keine Gelegenheit gegeben worden sei, mit Erregern in Berührung zu kommen. Noch ein weiterer Verdacht steht im Raum: Das Coronavirus selbst könnte dafür gesorgt haben, die Immunität der Kinder herabzusetzen, selbst wenn sie nur mild an Covid erkrankt waren. Von anderen Viruskrankheiten wie Masern ist das bekannt, auch Sars-CoV-2 kann die Widerstandskräfte des Körpers zeitweise herabsetzen. Wirklich drastische Auswirkungen hat dies allerdings nur bei einer HIV-Infektion.Fiasko in den KlinikenWelche Last auf die Krankenhäuser und die dort Beschäftigten diesen Winter zukommt, wird nun nicht nur von Corona, sondern auch anderen Krankheitswellen abhängen. Das Fiasko in den Kinderkliniken wollte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) lösen, indem er verschlug, Pflegepersonal von den Normal- auf die Kinderstationen zu verlagern. Das brachte ihm viel Hohn ein. Von „Inkompetenz im Ministerium“ sprach der Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Jakob Maske, im Deutschlandfunk. Kinder seien keine kleinen Erwachsenen. „Wie soll eine solche Person ein Frühgeborenes mit 600 Gramm Körpergewicht pflegen, das kann sie gar nicht“, sagte er. „Zumal auf den Stationen für Erwachsene ebenfalls Pflegepersonal fehlt.“ Die Beschäftigten dort werden sich ohnehin freuen, wenn die hart erkämpften Personaluntergrenzen nun kurzerhand wieder aufgehoben werden.Schon vor einem Jahr warnte Wolfgang Kölfen, Verbandssekretär der leitenden Kinderklinikärzte, vor dem absehbaren Notstand. In den vergangenen zehn Jahren seien 30 Prozent der Betten in den deutschen Kinderkliniken durch das Fallpauschalensystem verloren gegangen. Für viele Häuser rechneten sich die Kinder- und Jugendabteilungen nicht mehr, weil die jungen Patient:innen – auch weil die Eltern darüber mitbestimmten – nicht so lange im Krankenhaus lägen. „Liegt ein Patient aber kürzer im Krankenhaus, als die definierte Verweildauer im DRG vorsieht, rutscht der Patient in die Grenzwertverweildauer.“ Das Krankenhaus erhalte dann statt beispielsweise 2.000 Euro nur 500 Euro.Das Ende der Fallpauschalen?Ein weiterer Grund sieht Kölfen im Investitionsstau, weil die Länder, die dafür verantwortlich sind, ihrem Auftrag aber nicht nachkommen. Und die 2020 eingeführte generalistische Pflegeausbildung führt seiner Ansicht nach zu einem ausgeprägten Mangel an Kinderkrankenpfleger:innen. Wer mit Kindern arbeiten wolle, entscheide sich schon früh dafür und wolle nicht in die Erwachsenenpflege, sagt Kölfen. Doch beim Gang durch die heutige Ausbildung, bei der die Pflegeschüler:innen durch alle Bereiche geschleust werden, bleiben viele hängen und brechen ab. Geschätzt wird, dass 3.000 Vollzeitkräfte in der Kinderkrankenpflege fehlen.Im Rahmen der „kleinen“ Gesundheitsreform hat der Bundestag gerade beschlossen, den Kinderkrankenhäusern 300 Millionen Euro zuzuschießen und, wie erwähnt, den Kliniken die Möglichkeit eröffnet, kurzfristig Personal zu verschieben. Künftig können bestimmte Eingriffe und Behandlungen in den Krankenhäusern ambulant durchgeführt und mit einer Tagespauschale honoriert werden.Die „Ambulantisierung“ der Medizin ist das große Ziel des Gesundheitsministers. Welche Folgen das haben könnte, skizziert Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz: Pflegekräfte würden nun entlastet, indem die Behandlung von Patient:innen über Nacht unterbrochen werde, eine „lebensfremdes Hop-on-hop-off-System“. Im Januar geht endlich auch das lange umkämpfte Pflegepersonalmodell PPR2 in die Testphase und soll 2025 flächendeckend eingesetzt werden.Doch zur „großen“ Reform, als „Revolution“ tituliert, holte Gesundheitsminister Lauterbach zusammen mit Vertreter:innen seiner Expertenkommission dieser Tage aus. Von der Überwindung des DRG-Systems war die Rede und vom „Ende der Ökonomisierung“ des Gesundheitswesens. Kernpunkt ist die Aufteilung der Krankenhäuser in drei verschiedene Leistungslevel, wobei die kleinen Häuser in der Fläche noch einmal in solche unterteilt werden, die Notfallversorgung übernehmen können und integriert ambulant-stationäre Zentren, die keine 24-stündige ärztliche Bereitschaft vorhalten und auch von Pflegefachpersonal geführt werden könnten.Gleichzeitig definierte die Kommission 128 medizinische Leistungsgruppen, die die Kliniken untereinander austauschen können, sodass künftig nicht überall jeder medizinische Eingriff durchgeführt wird. Die Krankenhäuser in Level 1 fallen aus dem DRG-System völlig heraus und werden über Tagessätze finanziert. Die übrigen würden ihre Betriebskosten nach dem Konzept über einen Mix von Vorhalte- und Fallpauschalen decken, das Gros der Einrichtungen im Verhältnis von 40 zu 60 Prozent, nicht planbare Bereiche wie Intensiv- und Notfallmedizin und Geburtshilfe im umgekehrten Verhältnis von 60 zu 40 Prozent. Vom Ende der Fallpauschalen kann also keine Rede sein, aber ohne ökonomische Anreize gehe es nicht, heißt es unter Experten.Da kein Euro mehr in diese „Revolution“ gepumpt werden soll, diese aber mit dem Versprechen besserer Versorgung einhergeht, werden nicht wenige Krankenhäuser in der Fläche keine Kliniken im engen Sinn mehr sein oder ganz schließen müssen.Die Frage ist, wie weit die Bundesländer, die für die Krankenhausplanung zuständig sind, diese umstürzlerischen Pläne unterstützen werden. Und ob sich Karl Lauterbach bei den Leuten damit beliebt machen wird, wenn ihnen gerade „ihr“ Krankenhaus genommen wird. Er sei sich ihres Rückhalts sicher, sagt er selbstbewusst, und werfe auch keinen Stein auf diejenigen, die das nun so heftig kritisierte DRG-System einmal eingeführt haben. Er sitzt ja auch im Glashaus.
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