Die 68er haben alles erreicht

Gesellschaft Zeit abzutreten. Denn der Kapitalismus hat sich auch die Lesben und Schwulen einverleibt
Ausgabe 27/2017

Es rieselte Konfetti auf Volker Beck, der an diesem turbulenten und geschichtsträchtigen 30. Juni seine letzte Sitzung im Deutschen Bundestag absolvierte. Zufrieden und mit Tränen in den Augen feierte er die Krönung seines parlamentarischen Lebenswerks, obwohl die von Angela Merkel eröffnete „Gewissensentscheidung“ für die Ehe für alle nicht gesellschaftspolitischer Einsicht entsprungen ist, sondern ziemlich durchsichtigen Wahlkampfkalkülen. Mit einer der vielen unvermuteten Wendungen der Kanzlerin ist ein nach drei Jahrzehnten gut abgehangenes Thema nun verarbeitet und wird in künftigen Koalitionsverhandlungen mit wem auch immer nicht mehr durch den Wolf gedreht werden. Das ist gut so – aber weltbewegend?

Mancher mag sich vergangene Woche die Augen gerieben und gefragt haben: Gibt’s für die Republik vor einer Bundestagswahl eigentlich nichts Wichtigeres, als dass rund 43.000 verpartnerte Menschen noch einmal beim Standesamt auflaufen und bekunden dürfen, den Bund fürs Leben zu schließen, den richtigen, „Ehe“ genannten? Dass sie nun nicht nur füreinander einspringen müssen, wenn es finanziell eng wird, ihre Steuer gemeinsam veranlagen und sich gegenseitig beerben dürfen, sondern auch noch ein Kind adoptieren können, bei einem „Angebot“ nebenbei, das weit hinter der Nachfrage zurückbleibt? Wäre es nicht wichtiger, über die Rente zu reden oder über die Jungen, die angeblich allenthalben gesucht werden, aber dennoch keine Jobs bekommen, die ihnen das Kinderkriegen ermöglichen? Brauchen wir eine Symbolpolitik, die ausweist, wie wahnsinnig liberal wir sind?

Wir brauchen. Doch das hat nichts mit Symbolen zu tun oder Alibis. Der 30. Juni war ein denkwürdiger Tag, weil er wieder einmal gezeigt hat, dass mentale Unbeweglichkeit, persönliche „Ungutgefühle“ wie die der Kanzlerin oder scheinbar unverrückbare Parteimarkenkerne nichts sind gegen die unendliche Dehnungsfähigkeit, aber auch die Gefräßigkeit unseres Gesellschaftssystems, das alles, aber wirklich auch alles in sich aufnehmen kann, verdaut und möglichst als Profit auswirft. Wer hätte sich schon vorstellen können, dass die Körnerfreaks der 1970er Jahre einmal einer Bio-Lebensmittelindustrie auf den Weg verhelfen würden, die 2016 in Deutschland 9,5 Milliarden Euro umgesetzt hat. Der Mentalitätswandel, der sich in der Formel „Hauptsache Bio“ ausdrückt, ist ebenso ein volkswirtschaftlicher Faktor geworden wie die Auswirkungen der plakativen Parole „Mein Bauch gehört mir!“, der uns künftig zwar das lästige Rentenproblem beschert, aber auch dazu geführt hat, dass eine Masse gut ausgebildeter Frauen auf den Arbeitsmarkt gespült wurde, eine unabdingbare Reserve im ökonomischen Kreislauf.

Gleichstellungspolitik ist ebenso wie die Mobilität Schmierfett in der kapitalistischen Reproduktion. Deshalb heuern große Firmen Diversity Manager – oft Absolventen der Gender oder Disability Studies – an, die „Vielheit“ in Euro und Cent umsetzen sollen. „Wenn einer Gruppe“, behauptet der Chefökonom von UBS, Paul Donovan, auch in Bezug auf die gleichgeschlechtliche Ehe, „Rechte eingeräumt werden, die einer anderen versagt werden, dann schafft das ökonomische Verzerrung.“ Aber auch in anderen Bereichen sind Bestandteile der einstigen Subkultur in den gesellschaftlichen Mainstream eingewandert. Sozialpolitiker etwa haben erkannt, dass aus den einst alternativen Wohnprojekten auch kostengünstige Modelle nach dem Prinzip „ambulant vor stationär“ entwickelt werden können. Das Mehrgenerationenhaus oder die Pflege-WG erinnert nur noch hinsichtlich der Geldnot an die subversive Jugendkultur von einst. Dass nun auch gleichgeschlechtliche Paare eine „richtige“ Ehe eingehen dürfen, ist natürlich nicht den Interessen von Sektkellereien oder Eventveranstaltern geschuldet, wie Donovan meint. Es braucht schließlich eine weitere Kraft, die realen Akteure, die an die Pforte der Gesellschaft klopfen und Einlass verlangen. Mit dem Marsch durch die Institutionen hat das einmal begonnen – und in gewisser Weise bildet die Ehe für alle den Abschluss dieses einverleibten Emanzipationsprojekts, das auch eine Selbsteinverleibung ist. Sie sei ein Beitrag zu „Einigkeit und Recht und Freiheit für unser Land“, postulierte Volker Beck etwas pathetisch im Bundestag. In diese Einigkeit dürfen sich nun auch Lesben und Schwule aufgenommen fühlen. 1968 hat die Zielmarke erreicht. Gänge zum Verfassungsgericht werden an der Normalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen jedenfalls nichts ändern.

An den Rändern und den abgehängten Teilen der Welt zeigt sich allerdings, dass es bei allem systemimmanenten Hunger, bei aller Modernisierungsfähigkeit immer die Masse derer geben wird, die in diesem Prozess ausgeschieden werden. Ihr Stoßtrupp klopft nicht mehr nur an die Tür des Westens, sondern stürmt sie. Und die radikaleren Proteste gegen G20 lassen sich wohl nicht so leicht einfangen wie frühere Emanzipationsbewegungen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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