Die dunkle Seite des Aufschwungs

Soziale Gerechtigkeit Laut dem „Social Justice Index 2016“ gibt es immer mehr Menschen, denen Armut droht, obwohl sie einen Vollzeitjob haben. Auf Dauer verlieren dabei alle
Ausgabe 46/2016
In Spanien sind mehr als ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen von Armut bedroht
In Spanien sind mehr als ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen von Armut bedroht

Foto: Dani Pozo/AFP/Getty Images

„Mein 17-jähriger Sohn muss mich ab September ernähren, da wir eine Bedarfsgemeinschaft sind und er eine Ausbildung beginnt. Ich bin stolz auf alle meine fünf Kinder“, beschreibt Margot Batz ihre Situation 2015. Andreas Wüstenhagen erklärt, dass er trotz guter Ausbildung und vieler Bemühungen noch immer keinen Arbeitsplatz gefunden hat: entweder überqualifiziert oder zu unerfahren. Auch der Sportlehrer Laui Albaj Ali möchte nach einem Jahr Aufenthalt in Deutschland endlich arbeiten dürfen.

Eine Wanderausstellung der Arbeiterwohlfahrt Mecklenburg-Vorpommern will der Armut ein Gesicht geben, indem sie die Menschen, die hinter den dürren Zahlen stehen, zu Wort kommen lässt. Es sind alltägliche Schicksale, nicht spektakulär, denn in Deutschland verhungert niemand. Sie sind dennoch schwer: Man gehört nicht mehr richtig dazu, man fühlt sich ausgestoßen.

Armut ist relativ. Als armutsgefährdet gelten Menschen, die nur über 60 bis 70 Prozent des Medianeinkommens verfügen. Und dies ist keineswegs nur davon abhängig, ob einer arbeitslos ist. Der „Social Justice Index 2016“ der Bertelsmann-Stiftung, der jährlich die Teilhabechancen in der EU erhebt, macht deutlich, dass es immer mehr Menschen gibt, denen Armut droht, obwohl sie einen Vollzeitjob haben. Das betrifft inzwischen 7,8 Prozent aller EU-Bürger, 2009 waren es noch sieben Prozent. In Deutschland mit seinem sogenannten Jobwunder ist der Anteil seither sogar um zwei Prozent hochgeschnellt – das ist die andere, dunkle Seite des angeblich so segensreichen Aufschwungs, der mit einem schnell wachsenden Niedriglohnsektor erkauft wurde.

Gemessen an der Gesamtheit der von Armut und Ausgrenzung bedrohten Menschen sind die Arbeitsplatzbesitzer aber immer noch in der Minderheit. EU-weit rechnet der Index inzwischen mit fast 119 Millionen Bürgern, deren soziale Lage als prekär bezeichnet werden muss. Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 510 Millionen entspricht das fast einem Viertel, wobei es nach wie vor ein eklatantes Nord-Süd-Gefälle gibt: Griechenland steht noch immer ganz unten, aber auch Spanien und Italien tummeln sich auf einem der fünf letzten Plätze.

Dramatisch ist das für die elf Millionen Langzeitarbeitslosen, deren Zahl sich zwischen 2007 und 2015 verdoppelt hat. Noch schlimmer ist es für die, deren Zukunft von vorneherein verbaut wird, die kommende Generation. In Spanien etwa sind mehr als ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen von Armut bedroht, in Rumänien fast die Hälfte, und auch Großbritannien steht mit 30 Prozent nicht gut da. Über ein Viertel aller in der EU lebenden Kinder haben äußerst schlechte Zukunftschancen.

Dabei ist, wer sich Armut leistet, schlicht dumm. Ungleichheit, so die Autoren der Studie, wirkt sich nämlich auf das langfristige Wirtschaftswachstum und die Prosperität einer Gesellschaft aus. Wer den Generationenzusammenhalt gefährdet oder Kinder ins Abseits stellt, gefährdet das gesamte Gefüge. Selbst wenn es an Gerechtigkeitssinn und Empathie mangelt, sollte der Egoismus derer, die nicht im Schatten stehen, doch so ausgeprägt sein, um die Folgen von Armut abschätzen zu können. In den autoritären oder diktatorischen Staaten des frühen 20. Jahrhunderts wurde dieses Problem scheinbar gelöst, indem die einheimischen Bevölkerungen befriedet wurden durch Protektionismus und Kriegsgewinne. In einer globalisierten Gesellschaft steht dieser Weg nicht mehr offen. Leute wie Donald Trump werden das noch erleben.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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