Die Experten-Schlacht

Ein Gutachten jagt das andere Die schnelle Verabschiedung der Gesundheitsreform wird immer unwahrscheinlicher - inzwischen haben die Krankenkassen ihre Beiträge drastisch erhöht

Mit einem hässlichen Misston platzte die Nachricht in den so schön geredeten Wirtschaftsaufschwung zur Jahreswende: Zwischen 0,3 (die Technikerkasse am unteren Ende) bis 1,6 Prozentpunkten (AOK Rheinland-Pfalz) heben die großen und viele kleinere Krankenkassen zum 1. Januar ihre Beiträge an. Überraschen konnte das niemand wirklich, denn schon vor Jahresfrist hatten die Kassenvorstände gewarnt, dass unter den gegebenen Bedingungen das Beitragsniveau nicht zu halten sei. Während aber beispielsweise der AOK-Bundesverband noch im Sommer 2006 von "nur" 0,5 bis 0,7 Prozentpunkten ausgegangen war, fällt die Anhebung nun doch erheblich spürbarer aus - trotz Konjunkturbelebung, die auf den Arbeitsmarkt zwar nicht in gleichem Maße ausschlägt wie in den Bilanzen der Unternehmen, aber für Einnahmeverbesserungen der Gesundheitskassen sorgen wird. Dafür sprechen auch die kräftigen Überschüsse, die Renten- und Arbeitslosenversicherung - und selbst die Pflegekasse - 2006 einfuhren. Ganz so selbstverständlich ist die Beitragserhöhung also nicht, und es darf angenommen werden, dass die Kassen in der Schlussphase der Debatte um eine "große" Gesundheits"reform" ein politisches Zeichen setzen wollten. In Sachen Beitragssatz vielleicht das letzte Mal autonom, bevor der im Rahmen des geplanten Gesundheitsfonds bundeseinheitlich festgesetzt wird.

Das Signal geht in erster Linie an die Politik, die durch die Kürzung des Bundeszuschusses und mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer (für Arzneimittel) den Kassen einerseits Mittel entzieht, andererseits ihre Ausgaben erhöht. Auch die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, die neue ärztliche Vergütungsordnung oder die Bevorratung mit Impfmitteln (für drohende Grippeepidemien) schlägt zu Buche. Berücksichtigt man darüber hinaus die verschiedenen gesetzlichen Absenkungen der Beitragsbemessung für Arbeitslose, die die Kassen jährlich mit rund 0,7 Prozentpunkten belasten (und die nun als Überschuss der Arbeitslosenversicherung realisiert werden), und die Tatsache, dass Rentner vergleichsweise geringe Gesundheitsbeiträge entrichten, scheint die Forderung nach einem Finanztransfer durchaus gerechtfertigt. Um die Finanzbasis der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu stabilisieren, forderte Werner Schneider als Sachverständiger der AOK bei der letzten Anhörung im Gesundheitsministerium deshalb ein kurzfristiges Zehn-Milliarden-Euro-Programm (Wiederherstellung der vollen Bundesfinanzierung von 4,2 Milliarden Euro, volle Beiträge für die Bezieher von ALG I und II, ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Arzneimittel).

Doch der Ruf aus der Back-Stage blieb ohne Echo. Die Bühnenrampe besetzten zum Jahreswechsel zwei Ministerpräsidenten, die um die Gesundheitspfründe ihrer Länder fürchten. Günther Oettinger (CDU) ließ aus dem fernen Stuttgart vernehmen, "mit allen Mitteln" eine unsinnige Gesundheitsreform verhindern zu wollen, wobei für ihn der Unsinn darin besteht, dass sein finanzkräftiges Land mehr in den Gesundheitsfonds einzahlen soll als beispielsweise die Bundesländer im Norden und im Osten. Sein Kollege Edmund Stoiber (CSU) zieht schon seit Monaten mit fiktiven 1,7 Milliarden Euro, mit denen Bayern angeblich mehr belastet würde, durchs Land und hat beim nächtlichen Kompromiss deshalb den so genannten "Bayern-Rabatt" (die Konvergenzklausel) herausgehandelt, der den Länderausgleich bei 100 Millionen Euro deckelt.

Seither tobt ein bizarrer Experten-Krieg: Zuerst verbreitete die arbeitgebernahe "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" ein Gutachten, das ausschließlich unionsgeführte Länder zu den Verlierern zählt (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen), während der Osten oder das von Beck regierte Rheinland-Pfalz profitieren würden. Umgehend zweifelte das Gesundheitsministerium die Zahlen des Volkswirtes Thomas Dabrinski an, und der Sachverständige Bert Rürup bemängelte "methodische Schwächen". Ihm und seinem Kollegen Eberhard Wille wurde der Auftrag erteilt, das Werk zu überprüfen und bis Anfang Januar ein neues Gutachten vorzulegen, das geeignet ist, den Widerstand der Unionsländer zu brechen.

Ob es verlässlichere Zahlen liefert als die Werkstatt Dabrinskis, ist jedoch umstritten, denn viele Krankenkassen, die auf Bundesebene agieren, verfügen gar nicht über entsprechende regionale Daten, um die Auswirkungen der Gesundheitsreform auf die Länder abzuschätzen. Das aber, so Kritiker, mache auch die Konvergenzklausel fragwürdig, zumal demnächst verschiedene Kassenarten über Ländergrenzen hinweg fusionieren dürften. Das Bundesversicherungsamt hatte die Regelung deshalb schon bei der Anhörung im November als "weder zielführend noch umsetzbar" verworfen.

Um am Ende aber nicht von den eigenen Gutachten übertölpelt zu werden, hat die CSU vorsorglich noch einmal nachgelegt und angekündigt, dem Gesundheitsprojekt in der vorliegenden Form auf jeden Fall die Zustimmung zu versagen. Dieses Mal, weil es das Ende der Privaten Krankenversicherung einläute. Diese soll in absehbarer Zeit allen Versicherten einen Basistarif anbieten, der dem Volumen und dem Leistungsumfang der GKV entspricht.

Nach der ersten Verschiebung war geplant, das Gesetz Mitte Januar durch die Ausschüsse zu bringen und am 19. Januar das Parlament passieren zu lassen, damit es am 1. April 2007 in Kraft treten kann. So wie die Dinge liegen, scheint dieser Zeitplan - zumindest was den Parlamentsbeschluss betrifft - nicht mehr realistisch. Und je länger Ulla Schmidt ihr Reformwerk noch gegen Schüsse von allen Seiten verteidigen muss, desto größer wird der politische Schaden für die Koalition und desto unwahrscheinlicher, dass es überhaupt noch verabschiedet wird. Die satten Beitragserhöhungen der Kassen könnten auch als vorauseilendes Risikomanagement verstanden werden. Für den Fall, dass erst einmal alles beim Alten bleibt - oder der Koalitionsstreit die Risiken und Nebenwirkungen des neuen Gesetzes noch weiter erhöht.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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