Die Grenzen überwinden

Asyl Die Forderungen nach einem Einwanderungsgesetz werden immer lauter. Doch das eigentliche Problem wird dadurch nicht gelöst
Ausgabe 32/2015
Auf dem Weg zum Eurotunnel
Auf dem Weg zum Eurotunnel

Foto: Philippe Huguen/AFP/Getty Images

Der Eurotunnel unter dem Ärmelkanal war einst ein Symbol der Hoffnung. In den 60er Jahren visionär geplant und 1993 in Betrieb genommen, galt er nicht nur als technisches Wunderwerk, sondern als das Ende der isolationistischen Lage Großbritanniens. Er war ein Zeichen des Zusammenwachsens. Im Jahr 2015 warten am Eingang der riesigen Röhre Tausende von Flüchtlingen. Der Tunnel ist das Nadelöhr zur Insel, und es wird hüben wie drüben dichtgemacht mithilfe der Polizei und immer höherer Zäune. Das einstige Symbol der Verbindung ist zum Omen der Abschreckung geworden.

Währenddessen wird hierzulande wieder einmal über ein Einwanderungsgesetz gestritten. Denn je mehr Menschen versuchen, in Deutschland Asyl zu beantragen, desto deutlicher wird ein 14 Jahre zurückliegender politischer Sündenfall. Mit der Stimme Brandenburgs im Bundesrat wurde damals ein Zuwanderungsgesetz verhindert. Es hätte immerhin die Tatsache anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. 2013 kamen bereits 1,23 Millionen Menschen zu uns.

Viel zu wenig, erklären Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände, in denen die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge plötzlich bemerkenswerte Bündnispartner finden. 500.000 zusätzliche Einwanderer, prognostiziert das Institut für Arbeitsmarkt- und Zukunftsforschung, benötige das Land bis 2050. Und das Institut für Wirtschaftsforschung fordert mehr Planungssicherheit von der deutschen Asyl- und Zuwanderungspolitik, die nur mit einem Einwanderungsgesetz zu erreichen sei. Selbst die Mehrheit der Deutschen ist mittlerweile für eine geregelte Zuwanderung.

Glücklicherweise gibt es noch Politiker, die das Volk vor solchen Irrtümern bewahren. Innenminister Thomas de Maizière etwa zählt zu den strikten Gegnern einer gesetzlich flankierten Einwanderungspolitik. Er setzt auf Zuwanderungsmarketing und denkt dabei wohl an die verflossenen Zeiten, als man noch glaubte, „Gastarbeiter“ einfach anwerben und bei Bedarf wieder zurückschicken zu können.

Den entschiedensten Unterstützer finden Einwanderungsgegner in Horst Seehofer, der apodiktisch erklärte, ein Gesetz, das zu mehr Zuwanderung führe, sei mit der CSU nicht zu machen. Und einmal mehr polemisierte er gegen den „gewaltigen Missbrauch“ des Asylrechts und forderte die schnelle Abschiebung von Balkanflüchtlingen sowie die „Veränderung von Geldleistungen“, um den Anreiz, nach Deutschland zu kommen, zu vermindern. Es gibt Ländervertreter bis in die Reihen der Grünen und der Linkspartei, die ihm zumindest darin beipflichten, dass Asylanträge im Schnellverfahren abgewickelt werden sollten.

Ursprungsmythen des Nationalstaats

Wenn schon nicht humanitäres Engagement, sondern rein ökonomische Rationalität ein Einwanderungsgesetz geboten scheinen lassen, worin gründet dann der geradezu irrational daherkommende politische Widerstand? Geht es Seehofer nur darum, die rechten Fußtruppen bis zur Bundestagswahl 2017 hinter sich sammeln, um der Union die absolute Mehrheit zu sichern? Glauben de Maizière und Kollegen tatsächlich an die anhaltende Wirksamkeit der Abschreckungspolitik?

Vielleicht muss man aber auch auf die Ursprungsmythen des Nationalstaats zurückgehen, um zu verstehen, warum die Figur des Flüchtlings eine solche Sprengkraft hat. Denn obwohl 193 Staaten die Menschenrechte als universales Prinzip anerkennen, sind diese doch gekoppelt an Geburt und Abstammung. Diejenigen, die nur Mensch an sich und nicht Bürger sind, werden nicht geschützt. Ein Flüchtling, der auf seinen Pass verzichtet und lieber staatenlos wird, um nicht in sein Herkunftsland abgeschoben zu werden, ist vogelfrei. Mit dem massenhaften Auftritt des Flüchtlings – weltweit fast 60 Millionen Menschen – wird auch unser Verständnis universaler Menschenrechte herausgefordert.

Die europäischen Liberalen, kritisierte kürzlich Helen Zille, Regierungschefin in der südafrikanischen Provinz Westkap, betrachteten die globale Flüchtlingskrise ausschließlich durch das Prisma des ethnischen Nationalismus. Der Einzelne sei zwar aufgefordert, seine Rechte und Freiheit innerhalb der Grenzen des Nationalstaats zu realisieren, nicht aber unbedingt jenseits dieser Grenzen. Und sie gelten auch nicht für diejenigen, die vor den Toren Europas um Einlass bitten und die sie am dringendsten nötig hätten.

Die Kapitulation der Politik vor diesem Widerspruch spiegelt sich am deutlichsten im Konstrukt der angeblich sicheren Herkunftsländer. Die SPD ist einen entsprechenden Deal mit der Union eingegangen und ist jetzt auch dafür, weitere Länder in die Liste aufzunehmen. Angela Merkel hat sich dazu durchgerungen, ein Einwanderungsgesetz in Betracht zu ziehen. Es ist jedoch zu befürchten, dass ein Einwanderungsgesetz einen gewissen Nützlichkeitsrassismus befördert, wie die Linkspartei kritisch vermerkt. Denn auch das liberalste Gesetz wird danach fragen: „Wer ist ein Gewinn für unser Land?“ (Thomas de Maizière). In Südafrika, einem Einwandererland par excellence, werden Asylsuchende übrigens häufig lieber beschäftigt als Einheimische. Vermutlich, weil sie weniger Rechte haben und billiger sind.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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