17 Jahre lag Eluana Englaro von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in einer Privatklinik in Udine im Wachkoma. Viele Jahre wartete der Vater darauf, seine Tochter möge wieder zu Bewusstsein gelangen. Solche „Wunder“ gibt es immer wieder, und manchmal kehren Wachkoma-Patienten ins normale Leben zurück, ohne dass davon viel Notiz genommen würde; andere wiederum sterben, ohne Aufsehen zu erregen.
Zum politischen Streitfall werden sie erst, wenn Angehörige die Situation nicht mehr ertragen und Ärzte dazu veranlassen wollen, die künstliche Ernährung einzustellen, das heißt, die Patienten verdursten zu lassen. Dann wird aus dem Patient ein „politischer Körper“, an dem die gerade gültige Körperpolitik einer Gesellschaft exekutiert wird: die Scheidelinine, wer leben soll und leben darf, wer beim Zu-Tode-bringen assistieren darf, wer definiert, was lebenswert ist und was nicht. Naturgemäß sind Anfang und Ende des Lebens besonders sensible und anfällige Austragungsorte, an denen sich diese Grenzverschiebungen vollziehen.
Um diese Grenzziehungen wird, weil sie von Menschen gemacht sind, immer wieder neu verhandelt. Die dabei frei werdenden heftigen Emotionen haben ihren Grund darin, dass wir kreatürlich sind, mit dem Tod leben müssen und das Tötungstabu gleichzeitig eines der stärksten Bänder ist, die eine zivilisierte Gesellschaft zusammenhalten. Dies gilt insbesondere für medizinische Berufsgruppen, die qua Auftrag das Leben schützen sollen. Insofern ist der öffentliche Streit um jeden Wachkoma-Fall auch eine Auseinandersetzung um die Lebensgrundlagen einer Gesellschaft und Ausdruck einer vitalen politischen Kultur.
In den Mühlen machtpolitischer Interventionen
Im italienischen Fall allerdings ist das Leben der Patientin in die Mühlen machtpolitischer Interventionen geraten: Ministerpräsident Berlusconi, der unter Umgehung der Gewaltenteilung eine Art Notdekret zum Leben verordnen wollte; die katholische Kirche, die meint, von der Komapatientin noch Kinder erwarten zu dürfen – viele haben dazu beigetragen, den tragischen Einzelfall in einen Politpoker umzumünzen.
Das Spektakel ist ebenso unwürdig wie die kürzlich medienwirksame Inszenierung der Suizid-Beihilfe durch den selbsternannten Sterbehelfer Roger Kusch. Dem wurden am Wochenende vom Verwaltungsgericht Hamburg entsprechende Aktivitäten untersagt. Die Richter attestierten ihm „sozial schädliche und gemeinschaftliche Tätigkeiten“ und verboten ihm vorerst, sein Sterbehilfegewerbe weiterhin zu betreiben.
Auf das Verbot gewerblicher Suizidbegleitung, das war kürzlich bei einer Veranstaltung des Deutschen Ethikrats zu hören, werden sich wahrscheinlich Mehrheiten einigen können. An den Grenzfällen des Lebens wird und muss weiterhin gestritten werden. Aussichtsloses und unerträgliches Leiden, unabsehbares Wachkoma, ein Kind auszutragen, das dem Tod geweiht ist: All dies sind existenzielle Herausforderungen, die eine Antwort verlangen. Zu glauben, Patientenverfügungen würden den Staat und die Gesellschaft aus ihrer Fürsorgepflicht entbinden, ist allerdings eine Illusion. Sie delegieren nur auf den Einzelnen, was der Gemeinschaft auferlegt ist auszuhandeln. Totale Autonomie ist eine Schimäre.
Kommentare 11
Es ist ein Jammer, wenn derartige Schicksale in die Mühlen der Politik und der Prinzipienreiterei geraten. Der Mensch, der da im Pflegeheim am Leben erhalten wurde, hatte vermutlich nicht mehr arg viel gemein mit der lebensfrohen, strahlenden jungen Frau, die uns aus Fotos in den Medien anlächelte. Seine Tochter sei bereits vor 17 Jahren gestorben, sagte der Vater in einem Interview. Abschied genommen haben und doch nicht endgültig abschließen können, was muss das für Angehörige für ein Drama sein. Ich finde es gefährlich, grundsätzlich über Sterbehilfe zu entscheiden, aber es muss möglich sein, jedes Einzelschicksal differenziert und frei von Dogmen zu diskutieren und immer wieder neu eine Güterabwägung durchzuführen.
Danke für den guten Kommentar!
Brechreiz verursacht die Selbstgerechtigkeit und Doppelzüngigkeit, die zur Schau getragen wird von Leuten, die unter Umständen auch Holocaustleugner akzeptieren, plötzlich aber "für das Leben" voranpreschen. Von einem Berlusconi, der plötzlich ein Gewissen hat, mal ganz zu schweigen...nicht immer, wenn es um Sterbehilfe geht, sind aber politische Kalküle so deutlich wie in diesem Fall. Ich kann mich nur anschließen: Über Sterbehilfe grundsätzlich zu entscheiden ist gefährlich. Wie fragil das gesellschaftliche Tötungsverbot ist, hat ja nicht nur die hiesige Ärzteschaft während des Nationalsozialismus bewiesen; das Tötungsverbot kommt auch heute immer wieder ins Rutschen, und immer öfter geht es dabei vor allem um Effektivität und Nutzen und um - ja - um Lebenswert. Spätestens seit meine Oma gestorben ist, weiß ich: Ich will und kann so wenig wissen über meinen Tod. Hier endet die allseitige Kontrolle über das Leben, an die wir nur zu gern glauben. Wir sollten nicht vergessen, wie fragil wir sind.
Der Mensch, der sich wohl allzugern als die Krönung der Schöpfung wähnt, wird wohl immer wieder vor folgende Fragen gestellt werden: Wer darf über Leben und Tod entscheiden? Welches Leben ist lebens- und damit schützenswert? Ähnlich wie digitus bin ich der Meinung, dass hierfür niemals eine pauschale, allgemeingültige Regelung getroffen werden darf. Eine Patientenverfügung ist vielleicht nicht das non plus ultra, aber aus eigener Erfahrung weiß ich, wie hilfreich diese für die nächsten Angehörigen sein kann wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen.
Mir fällt dabei gerade ein: Ich habe irgendwo noch eine Ausgabe von Peter Singers Buch "Praktische Ethik". Zwei seiner Kapitel sind überschrieben mit "Leben nehmen [...]". In einem stellt er die Frage der Abtreibung, im anderen, hier interessierenden die Frage nach einem menschenwürdigen Tod. Er benennt es eindeutig mit Euthanasie und stellt drei Arten der Euthanasie zur Diskussion: 1. freiwillige Euthanasie; in logischer Konsequenz 2. unfreiwillige Euthanasie und schließlich 3. nichtfreiwillige Euthanasie. Die zentrale Frage, die ihn hierbei beschäftigt, ist die der Entscheidung über Leben und Tod sowie nach lebenswertem Leben. Peter Singer ist wohl doch noch aktuell, nur das er nicht mehr besprochen wird. Wir sollten vielleicht unsere Nasen doch einmal über dieses Buch hängen.
PS.: Singer verwendet das Wort "Euthanasie" nicht unreflektiert und stellt die Etymologie klar unter Verweis auf die heutige Verwendung sowie historische Erscheinungsformen (NS).
Also, ganz ehrlich, auf Peter Singer würde ich dann doch lieber verzichten.
Ja, aber alle, die unbedingt auf eine Patientenverfügung setzen wollen, sollten sich unbedingt vorher informieren, denn es gibt auch auf diesem "Markt" unendlich viel Schrott, der eher kontroproduktiv ist. Wie sehr sich die Linke bei diesem Thema fetzt, haben wir mal im Freitag in einem Streitgespräch dokumentiert, das vielleicht wieder abgerufen werden kann, wenn der Inhalt des "alten" Freitag wieder verfügbar gemacht wird ...
solange man sich nicht, ganz selbstbestimmt und aus ureigensten motiven heraus, gegen vorlage eines rezeptes die mittel besorgen kann, um schmerzfrei das eigene leben zu beenden, solange wird jeder diskurs um sterbehilfe einer sein, der am falschen ende begonnen wird. jede patientenverfügung, so gut und zutreffend sie auch formuliert sein mag, scheitert letztlich daran, daß man dem patienten die freiheit zu einer eigenen, selbstbestimmten entscheidung abspricht. und auch jeder andere wird in dieser hinsicht zu einem unmündigen subjekt bestimmt, dem man das recht verweigert, sein leben selbstbestimmt und wann auch immer zu beenden. es scheint für diese gesellschaft erträglicher zu sein, daß sich menschen von eisenbahnen überrollen lassen, von brücken und hochhausdächern in die tiefe stürzen, vor lastwagen werfen, die pulsader aufschneiden, den kopf in den gasherd legen oder unkundig medikamente und anderes in sich hineinschütten - unerträglich hingegen scheint es für diese gesellschaft zu sein, den subjekten tatsächlich autonomie zuzusprechen. es scheint so etwas zu geben wie ein "verfügungsrecht" der anderen über einzelne, wie sonst wäre zu erklären, daß immer so viele, um nicht zu sagen: die meisten, meinen, bei solchen fragen aufgerufen zu sein, NEIN zu rufen?
Ulrike Baureithel hat die Besonderheit des "Falles Englaro" in Italien benannt: in der Diskussion hier ging es weniger um das komplexe und delikate Problem der Patientenverfuegung, um die Bedingungen wuerdiges Sterben oder Leben, sondern um die Aneignung und Instrumentalisierung dieses Falls durch die Politik und die Kirche bzw. des Vatikans. Kurz zuvor hatte die Berlusconiregierung ein aeusserst umstrittenes, als verfassungswidrig bewertetes Dekret erlassen, demzufolge Aerzte, die illegale Fluechtlinge oder Einwanderer behandeln, von ihrer Schweigepflicht entbunden werden, mit der impliziten Aufforderung, diese bei der Polizei zu denunzieren. Auch mit dem Dekret im Falle Eluana Englaros ging es Berlusconi vor allem darum, seine Macht gegen einen Urteilsspruch des hoechsten Verfassungsgericht und den Praesidenten der Republik durchzusetzen. Der politische Krieg hat sich auf der Ebene der Lokalpolitik fortgesetzt. Der Praesident der Landesregierung Friuli-Venezia-Julias (in der sich Udine befindet), ein Freund der Familie Englaros, der aus der gleichen Bergregion wie Vater Englaro stammt, solidarisierte sich gegen seinen Parteifreund Berlusconi mit dem Anliegen der Familie; der Gesundheitsassessor der Region hingegen mit der Linie Berlusconis, was einen Eklat ausloeste. In Udine trat vorgestern der Stadtrat fuer Gesundheit und soziale Gerechtigkeit, ein Arzt, von seinem Amt zurueck, weil er die Linie des Buegermeisters von Udine, Vertreter eines Mittelinksbuendnisses und Befuerworter der Sterbehilfe im Fall Eluanas nicht mittragen wollte. Die Stadtregierung steht nun vor ihrer ersten internen Krise, nach der wahl imletzten Fruehjahr. Hier in Udine schien die ganze Bevoelkerung am Fall Englaro teilzunehmen, wildfremde Menschen stritten sich an der Supermarktkasse, Mahnwachen und Demonstationen, Traenen und Graffiti von Gegnern und Befuerwortern vor dem Altersheim, in dem das Protokoll zur Einstellung der kuenstlichen Ernaehrung vollzogen wurde. Der ueberwaeltigende Eindruck dieser Inszenierung um Eluanas Leben und Sterben ist der eines riesigen Maennerchors, indem um die Rolle de "guten Vaters" gestritten wurde, und in dem wirklich niemand fehlte: vom Papst bis zum Ministerpraesidenten, dem Oppositionsfuehrer Veltroni, Erzbischoefen, Direktoren, Richtern, Anwaelten, Schriftstellern, den Vertretern der Aerzteschaft..Bleibt die winzige Hoffnung, dass der allzu offensichtliche Missbrauch dieses sterbenden Frauenkoerpers durch diese Regierung und die Kirche von einem groesseren Teil der Bevoelkerung durchschaut wird.
Frau Duesberg schreibt, dass der größte Teile der Bevölkerung die Inszenierung von Politik und Vatikan durchschaut. Ich habe gerade einen Artikel im SZ-Magazin über Italien gelesen, der beschreibt, wie sehr die Italiener Berlusconi noch immer auf den Leim gehen, wieviel Unterstützung erfährt. Ist das böse Nachrede des Autors oder ist bei Frau Duesberg der Wunsch der Vater des Gedankens?
Da habe ich mich wohl missverstaendlich ausgedrueckt. Mit "Bleibt die winzige Hoffnung, dass ein goesserer Teil der Bevoelkerung diesen Missbrauch... durchschaut" meinte ich, dass es auch in diesem Fall eher unwahrscheinlich ist, dass die Regierungstaktik begriffen wird (deshalb schrieb ich von der "winzigen Hoffnung"). Aber auch nicht voellig unmoeglich - weil Berlusconis Vorgehen eben so eklatant war und fast obszoene Zuege hatte. Ansonsten hat die SZ leider Recht. Von aussen ist nur schwer zu verstehen, welche fatale Mischung Vatikan und die Berlusconiregierungen bilden und welche verheerenden Auswirkungen sie auf die demokratischen Prozesse haben. Als Berlusconi die dritte Wahl gewann, erklaerte mir ein (italienischer) Freund, dass die politischen Verhaeltnisse hier in Italien nicht mehr mit anderen europaeischen Laendern verglichen werden koennten - sondern eher mit suedamerikanischen Laendern, wie Argentinien. Das ist bestimmt ueberzogen, hilft aber beim Verstaendnis der Lage hier. Ciao aus Udine, Kirsten Duesberg
War wohl ein Missverständnis. Abber was Sie über die italienischen Verhältnisse schreiben, also der Vergleich mit Südamerika, finde ich total spannend. Vielleicht sollte die Freitag-Redaktion mal darüber schreiben.