Gewalt Vertuschen, verschleppen, verschweigen: Je höher das Ansehen der Täter, desto schlechter werden sexuelle Missbrauchsfälle aufgearbeitet. Die katholische Kirche ist da kein Einzelfall
Der Sachverhalt wirkt ungeheuerlich. In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum des Saarlands (UKS) sollen über Jahre hinweg 34 Kinder von einem Arzt sexuell missbraucht worden sein. Und obwohl die Klinikleitung vom Fall des Assistenzarztes Kenntnis hatte und an die Staatsanwaltschaft weiterleitete, wurde er, offenbar auf Druck der Klinikleitung, nicht publik. Mehr noch sah sie es nicht geboten, die Eltern der betroffenen Kinder zu informieren.
Mit dem Tod des Täters 2016 wurden die Ermittlungen eingestellt, und erst durch einen Zufall stießen die Eltern eines betroffenen, zum Zeitpunkt der Tat zehnjährigen Kindes auf das Delikt. Auch an der HNO-Klinik des UKS sollen mehrere Kinder sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen sein.
esen sein. Der Abschlussbericht des vom Landtag eingesetzten Untersuchungsausschusses steht noch aus. Angeblich hatte Annegret Kramp-Karrenbauer, damalige Ministerpräsidentin und Wissenschaftsministerin, von den Vorfällen keine Kenntnis.Was Klaus Martens und Peter F. Müller in ihrer aufwühlenden ZDF-Reportage Kartell des Schweigens Anfang Oktober einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben, fügt den vielen Kontexten, in denen Kinder und Jugendliche sexualisierter Gewalt ausgeliefert waren und sind, einen weiteren hinzu. Die Perfidie, die es braucht, einer Klinik anvertrauten kranken Kindern in narkotisiertem Zustand in dieser Weise Gewalt anzutun, wird höchstens noch überboten von der Energie, die von Institutionen aufgewendet wird, um derartige Taten zu vertuschen.Den letzten entsprechenden Versuch im Bereich der katholischen Kirche unternahm bekanntlich der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki, der alles dafür tat, die 2018 seitens der Deutschen Bischofskonferenz von den Bistümern geforderte Aufarbeitung zu verschleppen und unter den Teppich zu kehren, um die Institution, aber vor allem sich und seine Amtsbrüder zu schützen. Wie wenig der Kardinal verstanden hat und wie aktiv seine Abwehrreflexe weiterhin sind, wird an einer Aussage der jungen Theologin Viola Kohlberger deutlich: Sie berichtete auf Instagram davon, wie sie am Rande der diesjährigen Herbsttagung des Synodalen Wegs von ihm unter Druck gesetzt worden war, weil sie es gewagt hatte, Kritik an den Bischöfen zu üben. Kohlberger warf ihnen vor, dass sie „das System schützen wollen, dass sie die Kirche schützen wollen und dass sie nicht die Menschen im Blick haben“.Eben dieser falsch verstandene Verteidigungsimpuls ist einer der Gründe, weshalb es mit der Aufarbeitung in den Institutionen nicht zügig vorangeht, warum Betroffene nicht ausreichend Gehör und keinen Respekt finden und, wenn sie überhaupt entschädigt werden, meist wie Bittsteller mit Almosen abgespeist werden. Die Angst vor Rufschädigung und den damit verbundenen finanziellen Einbußen, wie es offenbar am UKS der Fall war, führen dazu, dass Täter (und seltener auch Täterinnen) unbehelligt an anderen Arbeitsplätzen – wie der besagte Assistenzarzt und unzählige Priester – weiteragieren dürfen und keine Maßnahmen getroffen werden, Kinder und Jugendliche zu schützen.Diese Schweigemauer führt dazu, dass die 2020 zuletzt veröffentlichte amtliche Statistik 37.990 Fälle von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen aufweist, davon 18.761 im Bereich Kinderpornografie. Im Jahr davor waren es 29.211. Man mag die Zunahme im Hellfeld des Missbrauchs den Erfolgen der Fahndungsbehörden zuschlagen. Was das Dunkelfeld betrifft, muss davon ausgegangen werden, dass in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder oder Jugendliche sitzen, die derartige Übergriffe erleben. Die auf Isolation ausgerichteten Corona-Maßnahmen, vermuten Fachleute, dürften noch dazu beigetragen haben, dass die Betroffenen vor allem in Familien völlig schutzlos ausgeliefert waren und noch weniger Hilfe fanden.Der so engagierte LehrerIm Tatumfeld Familie ist das Schweigen umso lauter, wie aus den sozial abgeschotteten vier Wänden nichts nach außen dringt. Die Kinder finden keine Worte für das Geschehen, schämen sich oder werden mundtot gemacht. Die nicht gewalttätigen Familienmitglieder – insbesondere viele Mütter – schauen weg, aus Loyalität mit dem Täter, weil sie den Skandal scheuen, ökonomisch abhängig sind oder weil einfach „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Deren „Untätigkeit, Ohnmacht und Lieblosigkeit“, so der Bericht der Aufarbeitungskommission, wird von Betroffenen besonders schmerzhaft empfunden. Die Schuldzusammenhänge bestimmen oft über Jahrzehnte den gesamten Familienkontext.Findet sexualisierte Gewalt in Institutionen – der Schule, der Kirche oder im Sportverein – statt, finden Kinder umso seltener Schutz, je höher das soziale Ansehen der Täter ist. Dass der Tochter im evangelischen Pfarrhaus Derartiges widerfahren kann, ist Außenstehenden ebenso unvorstellbar wie, dass ein um seine Schüler bemühter Lehrer, ein engagierter Sporttrainer oder gar ein Priester die Distanz zu seinen Schützlingen verlieren könnte. Im Kontext Kirche begünstigen das Seelsorge- und Beichtgeheimnis das Schweigekartell, in abgeschotteten „totalen Institutionen“ wie konfessionellen Schulen und Heimen oder reformpädagogischen Einrichtungen wie der Odenwaldschule fanden Kinder und Jugendliche keine Ansprechpartner.Der Spiegel berichtete im April 2021 von Tausenden Fällen sexualisierter Gewalt in britischen Eliteschulen wie Eton und St. Pauls, Ähnliches ist gerade von Pariser Eliteschulen bekannt geworden. Bisher konnten sich Schulen und auch der Sport hinter den als besonders skandalös empfundenen Geschehnissen in den Kirchen wegducken. Doch gerade im Umfeld Sport begünstigen Körpernähe und der Wille, sportlich über seine Grenzen hinauszugehen, Grenzverletzungen. Von den Vereinen werden sie entweder gar nicht registriert oder vertuscht, um die sportlichen Ziele nicht zu gefährden.Das „Schweigen der Anderen“ stellt für die Betroffenen oft eine noch größere Belastung dar als die Tat selbst. Das Gefühl, keinen Glauben zu finden, die Erfahrung, von Erwachsenen im Stich gelassen zu werden, können zu tiefgreifenden psychischen Problemen führen. Oft fragen sich die erwachsen Gewordenen, was in ihrem Umfeld gewusst wurde, gerade weil sie auch heute noch weithin auf Abwehr stoßen, wenn es um die damaligen Verbrechen geht. „Wenn Betroffene von Gewalt, von Missbrauch, über ihre Erfahrung zu sprechen beginnen, reicht das nicht“, erklärte Matthias Katsch von der Aufarbeitungskommission kürzlich. „Es braucht auch eine Gesellschaft, die zuhört.“ Und die bereit ist, das, was passiert ist, nicht nur institutionell und juristisch, sondern auch politisch aufzuarbeiten.Denn auch in der Politik dröhnt das vehemente (Ver)Schweigen. Das Thema spielte in den Wahlprogrammen kaum eine Rolle, und die Zukunft der ehrenamtlich arbeitenden und mit wenig finanziellen Ressourcen ausgestatteten Kommission wird in den Koalitionsverhandlungen wohl auch kein Thema sein.Placeholder infobox-1