Die Raserin

Andrea Nahles hat im Galopp die Rente reformiert. Kritik an ihrem Gesetz aber hört sie nur ungern
Ausgabe 21/2014

Die Frau hat es eilig. Nicht nur auf dem Nürburgring oder auf der Autobahn, wo sie gelegentlich auf die Tube drückt. Bis hin zu einer Geldbuße, die sie 2008 wegen Fahrerflucht abdrücken musste. Wer hat schon Zeit zu warten? Frauen und Autos: Das war einmal ein Freiheitsversprechen, zumal wenn sie auf dem Land wohnten, beispielsweise in einem kleinen armseligen Eifeldorf wie Andrea Nahles. Wo auch die 1970 geborenen Mädchen noch ins katholische Korsett gesteckt wurden, damit sie nicht auf dumme Gedanken kamen und, wenn sie Glück hatten, vom Zweiten Vatikanischen Konzil profitierten. Keine lateinische Liturgie mehr, bei der Kindern mit glasigen Augen auf elend-harten Fußbänken die Knie einschliefen. Reformfreudige weltzugewandte Vikare. Jazzgottesdienste. Später dann, Ende der siebziger Jahre, gab es sogar die ersten Ministrantinnen. Solche wie Andrea Nahles, die schon mit neun Jahren Priestern assistierten.

Sie hätte sich damals entscheiden können: Assistentin zu bleiben, wie es die weibliche Rolle noch vorsah, oder mehr zu wollen, „Hausfrau oder Bundeskanzler“, wie sie als Abiturientin schrieb. Sie wollte Bundeskanzler. Beziehungsweise Bundeskanzlerin. Und zwar schnell. Dass sie dabei gelegentlich in Sackgassen geriet, gehört zu einer Abenteuertour, deren politisches Navi ein bisschen zu sehr nach links wies, wenn auch nicht allzu radikal. Jetzt ist Nahles dennoch angekommen, dort, wo man als fast 44-Jährige nach Menschenermessen überhaupt ankommen kann: In dem mit dem größten Budget ausgestatteten Ministerinnenamt: 119 Milliarden Euro. Das ist weiß Gott kein Klingelbeutel.

Einen Pokal hat sie zweifelsfrei schon erkämpft: Andrea Nahles ist die schnellste, durchsetzungsfähigste Arbeits- und Sozialministerin, die dieses Land je hatte. Schon in den Koalitionsverhandlungen hat sie bewiesen, wie das geht: kommunikationsfreudig, aber knallhart. Nichts mehr von den Verbalattacken der ehemaligen Juso-Vorsitzenden, nichts von der Intrigantin, der einst Rudolf Scharping auf dem Mannheimer Parteitag 1995 zum Opfer gefallen war und zehn Jahre später Franz Müntefering, der mit einer SPD-Generalsekretärin namens Andrea Nahles nicht arbeiten wollte. Aber auch nichts von der ängstlich-ehrpusseligen Frau mit gefühlten Wettbewerbsnachteilen, die man während ihrer Schwangerschaft 2010 und danach gelegentlich erleben konnte, verbissen beweisend, von Beitragsbemessungsgrenzen und Risikostrukturausgleich genauso viel zu verstehen wie ihr Konkurrent Karl Lauterbach. Den hat sie mittlerweile weit abgeschlagen hinter sich gelassen. Auf Facebook und Youtube präsentiert sie sich als strahlende Siegerin. Sie hat während einer Amerika-Visite gelernt, wie wichtig die sozialen Medien sind. Unter ihrer Ägide begann auch die SPD, ihre weibliche Gemeinde virtuell anzulocken mit den Duftstoffen Quote und Kita.

Aber ausgerechnet die weibliche Wählerschaft könnte nun richtig sauer sein auf die Ministerin. Zwar werden vielleicht ein paar Unterbezahlte vom Mindestlohn – dem ersten Paukenschlag der Andrea Maria Nahles, wie sie sich nun nennt – profitieren. Vorausgesetzt, sie wohnen nicht gerade in Ostdeutschland oder sind im Friseurhandwerk tätig. Mit der Mütterrente werden erziehende Frauen immer noch unterdurchschnittlich abgespeist. Und von der vorgezogenen und abschlagsfreien Rente mit 63 haben Frauen mit ihren mageren Rentenpunkten ohnehin so gut wie nichts.

Das ist ein großzügiges Geschenk an die männliche Facharbeiterschaft und ihre Gewerkschaften, vor allem die IG Metall und die IG BCE. Bei der ersteren schlüpfte Nahles 2002 unter, als sie nach ihrem Clinch mit Bundeskanzler Gerhard Schröder um die Agenda 2010 aus dem Bundestag flog. Das verpflichtet. Also erhob sie, plötzlich wieder aus der Ministerrolle fallend, die Stimme: „Hört endlich auf mit dem schrillen Gejaule in diesem Land, weil vielleicht 50.000 Menschen mehr abschlagsfrei in die Rente gehen können“, kreischte sie kürzlich wieder auf dem DGB-Kongress. Es gäbe Besseres, als Leute an den Pranger zu stellen, die ihr Leben lang gearbeitet haben. Da ist sie also wieder, die alte Andrea Nahles, so gar keine sanftmütige Maria mehr. Sie wirkt zunehmend genervt. Fast schon aggressiv. „Ich sage Ihnen, Frau Klein“, belehrte sie kürzlich eine Kollegin vom Deutschlandfunk, „einfach war es nicht.“

Nein, einfach war es nicht. So lange hat sie zugehört und erklärt. Und begegnet immer wieder den gleichen Fragen und Argumenten: Dass ihr Großprojekt Rente ungerecht ist, weil es von den Jungen bezahlt werden müsse. Dass vor allem Männer profitieren. Und die Mütterrente die fetten Reserven der Rentenversicherung auffrisst, weil sie dem Kollegen Schäuble nicht mehr Geld dafür aus den Rippen leiern konnte. Hat man sie in ihrem Dorf denn nicht gelehrt: Sorge in der Zeit, dann hast du in der Not?

Doch, hat man. Und auch das: Wer genug gearbeitet hat, soll auch essen. Nur: Bei der umlagefinanzierten Rente isst man, sozusagen, auf Pump, in der Hoffnung, dass es den Kindern sogar besser geht, wie es zu Nahles Zeiten auch im Eifeldorf geheißen haben mag. Dieses sozialdemokratische Versprechen, das mit der katholischen Soziallehre durchaus vereinbar ist, gilt heute leider nicht mehr in diesem Ausmaß. Keiner weiß jetzt, was er in 40 Jahren noch zu beißen haben wird. Andrea Nahles könnte das gleiche Schicksal zuteil werden wie einst ihrem CDU-Vorgänger Norbert Blüm, der seine Person für die sichere Rente in die Waagschale warf. Sie wäre dann keine Assistentin, sondern die Macherin einer Sache gewesen, die sich noch als ungerecht herausstellen könnte.

Gleich zwei Großprojekte hat sich die Sozialministerin zu Beginn vorgenommen. Nun will der Bundestag ihre Rentenreform beschließen und der Mindestlohn soll folgen

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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