Die Vollstrecker lassen uns nicht los

Vergangenheit Die Justiz will gegen 15 ehemalige KZ-Aufseher ermitteln. Gut so. Denn dass sie bisher nicht belangt worden sind, kann kein Freibrief für die einstigen Täter sein
Ausgabe 15/2013

Vor gut einem Jahr starb John Demjanjuk knapp 92-jährig in einem bayerischen Pflegeheim. Man erinnert sich an die Bilder eines alten Mannes im Rollstuhl, der sich als Opfer der Deutschen sah und dem wegen seiner Hinfälligkeit Haftverschonung zugestanden worden war.

Zu der von seinem Verteidiger angestrengten Revisionsverhandlung ist es nicht mehr gekommen, und so bleibt das Urteil gegen den aus der Ukraine stammenden einstigen SS-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen juristisch und politisch folgenreich. Denn obwohl Demjanjuk keine konkrete Tatbeteiligung nachzuweisen war, habe er sich, so das Münchener Landgericht 2011, schon als „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ schuldig gemacht; einen Befehlsnotstand schlossen die Richter aus, weil der Angeklagte hätte fliehen können.

Nun hat die Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen (nicht zuständig für die Verbrechen der Wehrmacht) aufgrund neu ausgewerteter Archivalien eine Liste mit rund 1.000 KZ-Aufsehern erstellt, die im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ihren Dienst versehen haben. Einen tödlichen Dienst, der 1,2 bis 1,6 Millionen Menschen das Leben kostete.

Aufgrund des Demjanjuk-Urteils hält es der Leitende Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm für aussichtsreich, gegen mindestens zehn bis 15 der insgesamt 50 heute noch lebenden Personen Anklage zu erheben, auch wenn die Verdächtigen heute schon über 90 Jahre alt sind. Sie sind mit Namen und Adressen bekannt und leben durchweg in der Bundesrepublik.

Derzeit wird geprüft, ob gegen die Betroffenen bereits ermittelt wird oder sie schon verurteilt wurden. Wie der Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Linkspartei im Dezember 2011 zu entnehmen ist, muss in den meisten Fällen zumindest von laufenden Verfahren nicht ausgegangen werden.

Späte Rache also, die verspäteter Erinnerungsbereitschaft folgt? Ist es nach fast 70 Jahren noch sinnvoll und menschlich, möglicherweise todesnahe und haftunfähige Menschen vor Gericht zu zerren um der Genugtuung der Opfer und der Entlastung der Gemeinschaft willen? Die Versäumnisse bei der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Vergangenheit sind so wenig aufholbar wie das Schandmal auszulöschen ist, dass „furchtbare“ Juristen, Ärzte, Wissenschaftler und Politiker nach 1945 unbeeinträchtigt ihre Karrieren fortsetzen und hierzulande oder anderswo unangefochten leben konnten. Jeder einzelne dieser Laufengelassenen und Hofierten zeugt wider den Gründungsmythos der Republik. Aber ist das ein Freibrief für die Verbrecher, die überlebt haben?

Sie lassen uns nicht los, diese Großeltern und Urgroßeltern, diese großen und kleinen Täter, die Mitläufer und Mitschweiger, diese Vollstrecker, Mitgehangenen und Mitgefangenen der Geschichte. Nicht nur weil die Nachkommen der Ermordeten Sühne erwarten dürfen, sondern auch um unsretwillen sollten wir uns dieser Wiederbegegnung mit dem Verbrechen aussetzen. Und uns anlässlich der neuen deutschen Geschichtserzählungen daran erinnern, dass für uns billig, was für John Demjanjuk und andere recht ist: Man musste nicht alles mitmachen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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