Groß war die Empörung vergangene Woche, als die Landesvorsitzenden der Berliner Grünen den Bericht zur Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe innerhalb der Landespartei vorstellten. Zumindest in drei namentlich genannten Fällen ist nachweisbar, dass Parteimitglieder der ihr vorangegangenen Alternativen Liste ihre pädophilen Neigungen mit Minderjährigen ausgelebt haben und sie sexuell missbrauchten. Für die Grünen rollt nun wieder der Stein auf sie zurück, der schon den Bundestagswahlkampf 2013 beeinflusst hatte und den sie über den Berg zu rollen versuchten, indem sie auf Bundes- und Landesebene von unabhängigen Forschern nachprüfen ließen, was es mit den Vorwürfen auf sich hat.
Die wortreichen Entschuldigungen der Berliner Landesgrünen waren sicher ernst gemeint, wirkten angesichts der Tatsache, dass sie von einer Politikergeneration ausgesprochen wurden, die mit den Ereignissen und Debatten der 80er Jahre nichts mehr zu tun hat, allerdings auch etwas unbefriedigend. Immerhin stellen die Grünen denjenigen Opfern, die sich melden, eine „Anerkennungszahlung“ in Aussicht, im Wissen, dass sie für ihr Leid nicht entschädigt werden können. Andere Institutionen taten sich beim Thema Missbrauch schwerer. Gar nicht zu reden von den 14 Bundesländern, die trotz Zusage bis heute keine Zahlung in den Fonds geleistet haben, aus dem Opfer ergänzende Hilfe erhalten sollen, bis das schon lange ausstehende Opferentschädigungsgesetz auf den Weg gebracht ist.
Erkaufte Anerkennung
Doch zwischen der Empörung gegenüber einer Partei, die mit ihrem moralischen Impetus das politische Berlin immer wieder verärgert hat, und der Ernsthaftigkeit, den Kindern und Jugendlichen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, zumindest heute Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, klafft eine riesengroße Wahrhaftigkeitslücke. Das jedenfalls ist der Eindruck, den die bitteren Worte aus den Reihen des Betroffenenrats, der sich kürzlich konstituiert hat, hinterlassen: „Mit Leid und Schweigen erkaufe ich mir Anerkennung“, sagte etwa Kerstin Claus mit bebender Stimme. Gemeint ist, dass sie beim Verfahren um Entschädigung eine Verschwiegenheitserklärung gegenüber der Evangelischen Kirche Bayern unterschreiben musste, um finanziell unterstützt zu werden.
Mit dem Betroffenenrat sollen diejenigen am Prozess der Aufarbeitung und der sie flankierenden Maßnahmen – von der Reform des Opferentschädigungsgesetzes über die Finanzierung von Beratungsstellen bis hin zur Prävention – beteiligt werden, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexuelle Gewalt erfahren haben. Der Rat ist angesiedelt beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und umfasst 15 Personen, von denen einige anonym bleiben wollen.
Soweit es um die juristische Aufarbeitung gehe, klagte Renate Bühn, die die Darmstädter Gruppe der Selbsthilfeorganisation „Wildwasser“ aufgebaut hat, würden 85 Prozent aller einschlägigen Anzeigen auch heute nicht verfolgt und das Strafmaß bleibe, soweit es überhaupt zu einer Verurteilung komme, am unteren Ende. Beratungsstellen seien unzureichend ausgestattet, im reichen Bayern, so Tamara Ludwig, müssten sich die Einrichtungen teilweise ausschließlich aus Spenden finanzieren; anderswo führt die Einzelfallabrechnung, bei der nur die unmittelbare Beratung bezahlt wird, zur Unterfinanzierung. Das erinnert an die Einrichtungen für die Opfer häuslicher Gewalt, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.
Für die Verschleppung der eigentlich schon in der letzten Legislaturperiode vorgesehenen Reform des Opferentschädigungsgesetzes findet der Missbrauchsbeauftragte, Johannes-Wilhelm Rörig, deutliche Worte. Dass es in vier Jahren nicht möglich war, im Arbeitsministerium einen entsprechenden Entwurf zu erarbeiten, sei nicht hinnehmbar und für die Betroffenen sehr belastend. Entsprechende Vorstöße Rörigs bei den zuständigen Ministerinnen, Ursula von der Leyen und Andrea Nahles, endeten schon im Vorzimmer: Ein einziges Mal wurde ihm eine Audienz mit einer Staatssekretärin gewährt. Es fehle wohl einfach an Sensibilität für das Thema, mutmaßt er.
Das Aussitzen dieser Reform hat für die Betroffenen unabsehbare Folgen. Derzeit steht ihnen zwar noch das Geld aus dem Fonds zur Verfügung, doch der Antragsstau mit einer Bearbeitungszeit von einem Jahr signalisiert deutlich, welche Priorität ihren Problemen beigemessen wird. Das ist auch der Grund dafür, dass erst zehn Prozent der derzeit verfügbaren Mittel abgerufen werden konnten. Da der Hilfetopf nur als Übergangslösung gedacht war und im April 2016 aufgelöst werden soll, besteht nun sogar die Gefahr, dass das Geld zurück in die Haushalte fließt. Böse, wer da an Absicht denkt: Dann wären die zahlungsunwilligen Bundesländer, die dem Fonds noch 40 Millionen Euro schulden, nämlich aus dem Schneider. „Die Länder“, fordert Rörig, „müssen endlich in den Fonds einzahlen. Mitgefühl muss auch materiell unter Beweis gestellt werden.“
Immerhin hat der Bundestag vergangene Woche signalisiert, dass Anfang 2016 endlich die lange geforderte Aufarbeitungskommission eingesetzt werden soll. Angesichts dessen, was bei einer Expertenanhörung im Januar als Aufgabenpaket formuliert wurde, wird das kein leichter Job. „Aufarbeitung“, gab Pater Mertes, früher Leiter des betroffenen Canisius-Kollegs, zu bedenken, setze Vertrauen voraus, der juristische Diskurs dagegen sei von Misstrauen unterlegt. Vor diesem Hintergrund ist es auch wenig klug, die Grünen jetzt an den Pranger zu stellen oder strafrechtliche Konsequenzen zu fordern. Er wünsche sich vielmehr, sagt Matthias Katsch, der als Schüler des Canisius-Kollegs von zwei Jesuitenpriestern missbraucht wurde, dass sich die damalige grüne Führungsebene äußere.
Sie könnte Auskunft geben über ein verfehltes Emanzipationsprojekt, das Kinder nicht nur als abhängige Schutzbefohlene, sondern als eigenständige Individuen verstand, im Rahmen einer zu befreienden Gesellschaft. Über dieses Thema müsste diskutiert werden, ebenso wie über die Gründe, weshalb das nur schiefgehen konnte. Das wäre jedenfalls ergiebiger, als die Nötigung zum rituellen „mea culpa“.
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