der Freitag: Herr Rosa, normalerweise beginnt man ein Gespräch wie dieses mit dem Dank, dass Sie sich die Zeit dafür genommen haben. Vor zwei Jahrzehnten wäre ich wahrscheinlich nach Jena gefahren, um Sie zu treffen und wir hätten mehr voneinander mitbekommen als nur eine Stimme am Telefon. Wir sind gewohnt, solche Dinge zu beschleunigen. Was bedeutet es, immer mehr Dinge in immer weniger Zeit zu tun?
Hartmut Rosa: Wir sind daran interessiert, unsere Aufmerksamkeit möglichst zu optimieren. Wir müssen nicht erst Kaffee auf den Tisch stellen und uns danach erkundigen, wie die Reise war. Aber damit passiert auch etwas, was ich als zunehmenden Entfremdungsprozess beschreiben würde. Wir schauen uns nicht in die Augen, begegnen uns nicht. Wir konzentrieren uns darauf, möglichst schnell ein präzises Gespräch zu führen, was aber gleichzeitig unser Verhältnis zur Welt verändert. Auf der Strecke bleibt dabei das, was ich Resonanzbeziehung nenne. Uns zu begegnen heißt, uns aufeinander einzulassen. Wir wissen aber auch nicht genau, was bei dieser Begegnung herauskommt.
Als ich gestern dieses Interview vorbereitet habe, hätte ich gleichzeitig auf einer Tagung sein, aber auch etwas für meine Gesundheit tun sollen. Wir leben in einer Zeit unendlicher Möglichkeiten, etwas, das eigentlich eher dem Jugendalter vorbehalten ist. Befinden wir uns in einer juvenilen Dauerschleife?
Ja, wir leben in einer Art von Dauerpubertät, weil unsere hochdynamischen Systeme uns dazu zwingen, uns ständig Optionen offen zu halten und daran zu denken, was wir morgen machen wollen. In der Pubertät versuchen wir unseren Platz in der Welt zu finden. Inzwischen ändern wir auch als Erwachsene ständig unsere Position. Wir sind nicht mehr Sozialdemokrat, sondern haben bei der letzten Wahl höchstens sozialdemokratisch gewählt. Wir werden in Zukunft immer mehr in einem Modus des Versuchs leben. Es geht aber nicht nur um einen Optionshorizont, der durch Prioritätensetzung gebändigt werden könnte. Ihr Beispiel zeigt ja, dass es im Alltag nicht nur zu einem Missverhältnis von Möglichkeiten und ihrer Realisierung kommt, sondern zu einer Kluft zwischen den Aufgaben, die man legitimerweise von uns erwarten kann und unseren Zeitressourcen. Sie hätten ja auf die Tagung gehen können. Gleichzeitig kann man von Ihnen auch erwarten, dieses Interview sorgfältig vorzubereiten. Ihr Arzt wird Ihnen raten, etwas kürzer zu treten. Was ansteigt, sind die legitimen Erwartungen an unser Zeitbudget.
Zur Person
Hartmut Rosa (50) ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Er lehrt an der Universität Jena und ist Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt
Obwohl wir alles autonom zu entscheiden meinen, haben wir immer mehr das Gefühl, uns falsch zu entscheiden und etwas zu verpassen. Gibt es in der spätmodernen Gesellschaft dafür Regeln oder Antriebskräfte?
Zunächst erleben wir so etwas wie eine Entscheidungskrise, allen klugen Ratgebern zum Trotz. Vom banalen Alltag bis in die politische Sphäre stellen wir fest, dass uns die Kriterien für unsere Entscheidungen ausgehen. Sollen wir in den Syrien-Krieg ziehen oder nicht? Sollen wir uns gegen die Flüchtlinge absichern oder die Grenzen einfach öffnen? Ähnlich geht es Studierenden bei der Wahl ihres Studienfaches. Es gibt keine guten Gründe mehr für das eine oder andere. Wenn wir uns entscheiden, was wir ja täglich tun müssen, folgen wir der Vergrößerung von Weltreichweite.
Was meinen Sie damit?
Diesen Begriff würde ich einführen, um zu erklären, wie wir uns die Welt verfügbar und zugänglich machen. Warum wollen Menschen in der Stadt leben? Weil sie die Dinge in Reichweite haben, Kino oder Restaurants, egal ob wir sie frequentieren oder nicht. Auch Geld bringt Welt in Reichweite, ich kann etwa nach Rio fliegen. Ähnliches gilt für das Smartphone, mit dem ich mir die Welt zugänglich mache. Und genau genommen liegt in der Erreichung von Weltreichweite immer schon ein Moment der Aufschiebung.
Wie meinen Sie das?
Wir träumen von mehr Reichweite in der Hoffnung, irgendwann dem Menschen zu begegnen, den wir lieben. Warum wollen wir zu Spotify? Weil wir alle Musik in Reichweite haben, die uns ansprechen könnte. Wir entscheiden uns für Resonanzmöglichkeiten, um potenzielle Beziehungen anzusammeln. Die 700 Freundschaften bei Facebook sind ja nicht als tiefe Beziehungen zu realisieren.
Die klassische Moderne hat versucht, den Menschen mit der technischen Zivilisation zu synchronisieren. „Der Mensch ist der Fehler“, sagte schon Brecht, der ahnte, dass das nicht klappt. Die digitale Revolution hat den Menschen nun endgültig auf die Überholspur gesetzt. Gibt es dafür so etwas wie eine anthropologische Grenze?
Dieses Synchronisationsprojekt hat ja nie wirklich geklappt.
Die technische Beschleunigung verspricht uns ersparte Zeit, sei es durch das Flugzeug oder die Mikrowelle. De facto ist es aber schlimmer statt besser geworden, weil die Weltmöglichkeiten die Welterwartungen explodieren lassen. Nur weil es Telefon und Internet gibt, können wir dieses Interview führen, aber dadurch ist das Missverhältnis zwischen benötigter und verfügbarer Zeit gewachsen. Dennoch lassen wir uns von der Illusion der Beschleunigung täuschen und glauben, wenn etwas technisch etwas schneller zu bewerkstelligen wäre, hätten wir mehr Zeit. Die anthropologische Grenze, nach der Sie fragen, liegt in unserer psychischen und kulturellen Verarbeitungsfähigkeit, wenn es darum geht, etwa Wertorientierungen weiterzugeben oder einen bestimmten Habitus auszubilden. Die ansteigenden Burn-out-Raten verweisen auf die Überforderung aufgrund der hohen sozialen Geschwindigkeit.
Es gibt unverfügbare Bereiche für Beschleunigung, Kindererziehung etwa oder die Pflege von kranken oder alten Menschen, die leibliche Anwesenheit erfordert. Fluide Existenzweisen sind damit doch ganz und gar inkompatibel.
Bildungs- und Pflegeprozesse lassen sich zeitlich tatsächlich nicht beliebig verdichten oder optimieren. Gerade dabei kommt es auf die Herstellung von Resonanzbeziehungen an. Es geht nicht um Kompetenzaneignung wie beim Erlernen einer Sprache oder der strukturellen Analyse eines Gedichts. Ob den Schüler ein Gedicht „anspringt“, ist auch von der leiblichen Begegnung im Klassenzimmer abhängig, vom direkten sinnlichen Austausch. Bildungs-, Pflege- oder Erziehungsprozesse zeitlich optimieren oder anderweitig verfügbar machen zu wollen, untergräbt den Charakter dieser Beziehungen.
Wir erleben Beschleunigung nicht nur im Alltagsleben, auch unser gesamtes Umfeld, insbesondere Politik und Wirtschaft, dreht sich immer schneller. Treibt Beschleunigung Krisen hervor?
Viele Krisen, die wir momentan beobachten, etwa die ökologische Krise, sind Ausdruck von Entfremdungsphänomenen. Wir dringen immer weiter vor in die Gletscher und in die Erdtiefen wie beim Fracking und machen uns die Natur verfügbar, verlieren sie aber als Resonanzsphäre. Ähnlich sehe ich das in der Politik. Wir erleben eine tiefe Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern und laufen Gefahr, Politik als Resonanzraum zu verlieren, in dem wir Welt gemeinsam gestalten. Demokratie war einmal das Versprechen, dass uns die Welt nicht „stumm“ oder gar feindlich gegenübertritt, sondern antwortet. Wenn wir uns von Fremdem aber nur bedroht fühlen, führt das zu Resonanzverweigerung und Abschließung aus Angst vor Verletzung.
Bürger, die keinen Resonanzraum mehr finden, gehen im harmlosen Fall also zu Facebook und im weniger harmlosen zu Pegida?
Die Wutbürger bringen ihren Protest zum Ausdruck. Sie wollen gehört werden und sagen das auch so. Das finde ich erst mal nicht falsch. Gleichzeitig wollen die Leute bei Pegida aber auch gar nichts mehr politisch gestalten. Die zum Ausdruck gebrachte Unzufriedenheit verwandelt sich bei ihnen in Repression, man attackiert Politiker oder will Flüchtlinge aus dem Land treiben. Sie erleben sich in einer kalten, toten Welt und hoffen, im „einen einzigen Volk“ zu verschmelzen. Wenn man aber nicht mehr dem Anderen, sondern nur noch seinen Spiegelbildern begegnet, entsteht eine identitäre Demokratie, die wie eine Echokammer widerhallt.
Was wir hier diskutieren, stammt aus dem Arsenal der klassischen Kulturkritik. Sie sind aber eigentlich gar kein Kulturkritiker und glauben zum Beispiel auch nicht an Entschleunigung.
Stimmt, ich wollte nie Theoretiker der Entschleunigung sein. Weder war früher alles gut, noch glaube ich daran, dass durch Verlangsamung die Dinge besser würden. Langsamkeit ist kein Selbstzweck, ein langsames Internet ist nervig, ein langsamer Notarzt kann sogar tödlich sein. Ich würde es eher mit Ernst Bloch und seiner Definition von Heimat halten. Er sagt, Heimat ist ein Land, in dem noch keiner war, es scheint uns aus der Kindheit her. Kinder leben stärker in Resonanzbeziehungen als Erwachsene. Wir haben zwar eine Idee davon, wie eine resonante Welt aussehen könnte, sie ist bisher aber noch nicht realisiert worden. Was wir erreichen, sind höchstens kleine Resonanzoasen.
Es war immer ein marxistischer Traum, dass sich die Menschen durch die Entwicklung der Produktivkräfte frei entfalten, allerdings unter der Voraussetzung, die Produktionsverhältnisse zu verändern.
Damit stimme ich auch völlig überein. Was ich als die Vergrößerung der Weltreichweite beschreibe, ist strukturell mit der kapitalistischen Wirtschaft verbunden, mit Wettbewerb und Zwang zur Steigerung der Kapitalakkumulation. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das der Ausgangspunkt ist oder nicht vielmehr unser falsches Weltverhältnis, unsere Art, wie wir zu Arbeit und Eigentum in Beziehung treten. Es genügt also nicht, nur unsere Haltung zur Welt zu ändern und etwas achtsamer zu sein.
Illustrationen zu dieser Ausgabe
Die Bilder der Ausgabe sind illustrierte Zukunftsvisionen von Klaus Bürgle aus dem letzten Jahrhundert: „90 Prozent waren Forscherwissen, das andere Fantasie und Konstruktion.“ Mehr über den extraterrestrischen Grafiker erfahren Sie im Beitrag von Christine Käppeler
Kommentare 24
bemerkung 1: in meinem konkret erlebten resonanzraum gymnasium hab ich zu gedichten,bestimmten kalkulationen etc. keinen kontakt bekommen. im institutionen-bereinigten, gestripten, ent-persönlichten raum internet schon.
Danke fuer das Interview.
Klasse Interview, kluge Fragen, ein durchdacht und weise antwortender Gesprächspartner. Was will man mehr.
Der Zwang zur Kapitalakkumulation schafft eben keinen Fortschritt, weil dem Skalar ein Richtungspfeil fehlt, der aus ihm einen Vektor machte.
Es fehlt die Qualifizierung der unbestreitbar vorhandenen, enormen technischen, logisitischen und finanziellen Kräfte und Größen, die mittlerweile zur Verfügung stehen. Im sozialen und psychologischen Raum, fehlt die Sinnstiftung und emotionale, d.h. liebevolle Bindung, an ansprechbare, nicht käufliche und verkäufliche Subjekte.
So ist zum Beispiel die Umstellung der Daseinsvorsorge (Alter, Gesundheit, Erziehung) auf ein System profitorientierter Dienstleistungen, ein Einfallstor für die Brutalisierung und emotionale Entkernung dieser Bereiche. Darum sieht es oft nur in den Eingangsbereichen und in den Verwaltungstrakten vieler Heime und Kliniken so aus, als sei da das holzgetäfelte, sich in den Böden spiegelnde Paradies, neben der standardisierten Topfpflanze verwirklicht.
Z.B. Marx´ Frühschriften und Heidegger, nach seiner Kehre, enthalten zu einer Kritik dieser Verhältnisse viele Hinweise.
Nur weiter so
Christoph Leusch
Ist es aber nicht so, wie es Rosa sagt? Im Wahn der Verfügbarkeit, stehen nicht eine Anthologie, ein paar Gedichte, sondern tatsächlich Millionen (je nach Sprachfähgkeit) zur Verfügung. Für Musik gilt das ebenso.
Die Zeit läuft. In dieser Zeit wird immer mehr Material auf die Server und die Homebase geladen. Es entsteht geradezu ein Sog, nach der nächsten Ansage, nach noch mehr. Das heute Gelesene ist übermorgen alt und im nächsten Jahr, im eigenen Archiv, real, digital, vor allem aber emotional und mnestisch, weg.- Heute millionenfach legal und illegal Geladenes, in einem Monat schon aus den Charts und aus dem Sinn. Zumeist hat das sogar Sinn, aber in der selbsterwählten Beschleunigung und der identitären Unsicherheit, wächst das Risiko der falschen Wahl, die scheitert, weil keine Zeit bleibt zu prüfen, die Sinne und Wahrnehmungen zu schulen.
Nicht, dass es das in der analogen Gutenberg- Galaxie nicht auch schon gab: 30 Bücher am Kopfkissenende, eines darunter, 30 Kochbücher neben dem Herd, usw. Trotzdem jedoch, Jahre lang, außer Spiegelei, Schnitzel und seltsam dressierten Salaten, keine Verbesserung der eigenen handwerklichen und geschmacklichen Fähigkeiten, sondern täglich Aufreißtüten- Suppen, Soßen, Kuchen. Joghurt aus der Industriespritze, TK- Ware, wenn überhaupt noch. pp.
Und selbst die Pizza um die Ecke, die für eine gehalten wird, aber aus Instant- Mehl, Tomatenresten, Schmelzkäse, Formvorderschinken, Glutamat, Salz und einigen Tropfen ranzigen Olivenöls, nebst Pizzawürze komponiert wurde, spricht nicht mehr unbedingt für Kultur und Zivilisation, erlernt, erkannt, geliebt, als Teil des neuartig Fremden, das man als besser, bereichernder, vielfältiger, anerkennt und schätzt.
Trotzdem also, trotz der Vermehrung aller Möglichkeiten, entsteht keine Ausbildung der Fähigkeiten, Prosodie, Bildsprache und Inhalte der Lyrik gerechter und dringlicher fürs eigene Dasein zu machen. Keine Zeit!
Sosa benennt die Identität, als den Kernangriffspunkt. Das ist die Währung, von der in einer atomisierten und globalisierten Welt, immer zu wenig vorhanden zu sein scheint. Also werden Gemeinschaften gesucht, die recht eigentlich mit ganz wenigen Symbolen, Angeboten und eher einer großen Selbstversicherung werben.
Die Identitären kommen aber nicht mit universalen Rechten oder Ansprüchen, sondern damit, immer und ausschließlich Personen und Kontakte zu finden, die so ticken, wie man selbst tickt. Endlich, in aller Vereinzelung und Individualität, eine Versicherung, gar nicht allein zu sein, gegen die fremde, immer viel größere, immer viel weiterer Welt und deren Druck. Wohlstands- und Wohlfühlsphären sind lange schon Versprechen. Nun kehrt das Angebot einer vereinfachten Welt, zur Identitätsstiftung Deutscher/Deutsche, zurück. Das kann nicht gutgehen.
Wenn ich mit mir selbst ehrlich bin, dann war meine Analysefähigkeit für Lyrik während der Schulzeit feiner, notwendiger und breiter entwickelt, als je später. In den alten schwarzen Bänden aus dem untergehenden Hause 2001, der Literaturzeitung "Akzente" finden sich Beschreibungen davon, wie wunderbar Viertklässler Celan- Gedichte interpretieren, und nie waren mir die wunderbaren Frühlingsgedichte deutscher Dichter, ihr blaues Band, ihr tiefempfundenes Grün, Wald und Berg, und Frühtau, näher, als in der damals so genannten Volksschule.
Beste Grüße
Christoph Leusch
bemerkung 2: der verdacht, im internet blätternde suchen nur nach bestätigung ihres halbwissens, wäre entgegenzusetzen: die niedrig-schwelligkeit des unpersönlichen netzes löst störendes autoritäts-gefälle. nur das ewig-gleiche zu erfahren sollte doch langweilig werden. eine halb-stufe komplexeres zu erfahren, setzt auf die neugierde des lesers/lernenden.
will sagen: in der resonanz-beziehung ist die beziehungs-ebene neben der sach/inhalts-ebene präsent. die kann aber auch stören. oder?
der erweiterte options-horizont kann durch prioritäten-setzung prinzipiell gemeistert werden.
kriterien für entscheidungen sind uns nicht mehr selbst-verständlich zur hand. rat-geber-suche ist angesagt.
die möglichkeiten wachsen enorm, die akzualisierungs/verarbeitungs-kapazität ist ans leibliche gebunden: kinder-erziehung wissens-aufbau, pflege nimmt reale lebens-zeit in anspruch. die imaginierte fülle an lebens-plänen, das konsum-und erlebnis-paradies, stößt an die grenzen der leiblichkeit. wer auf der sonnenseite lebt, dem sind 100 lebensjahre zu wenig.
was ist mit denen,die um die möglichkeiten wissen,aber sich vielfach beschnitten fühlen?
Früher hieß es immer, Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich. Und: Die Zeit, die du mit deiner Rose verbringst, sie ist es, die deine Rose für dich so kostbar macht.
Anders gesagt, Zeit ist ein Maß für Wichtigkeit. Jeder kann also selbst ermessen, wie wichtig ihm die einzelnen Elemente seines Lebens sind. Nicht jeder hält aus, was das über ihn aussagt. Meist sind dann andere Menschen involviert gewesen, deren Wichtigkeit man erst erkannt hat, als es zu spät war.
Ja. Wichtig wäre aber auch, anderen Zeit zu lassen.
Mit sich selbst, so denke ich, sind doch recht viele Menschen nachsichtig. Mit anderen eher nicht.
Geht es aber um Zeit und Geld, dann ist extreme Taktung gewünscht.
Immer mehr Leute sollen zu bestimmten Zeiten, bei Arbeit und Freizeit gleichermaßen, auf sehr, sehr ähnliche Tätigkeiten, gar wenige Inhalte, konzentriert bleiben. - Ich nenne das das "Oktoberfest"- Phänomen, weltweit, synchronisiert, zeitlich sogar ausgedehnt, möglichst ganzjährig. Gesucht gerade von jungen Leuten, die sich viel auf Individualität einbilden, aber doch Angleichung suchen.
Das ist ökonomisch höchst effizient. Das nimmt sogar die Kultur immer stärker ein. Es beherrscht Medien, die sich soweit formen lassen, zum Beispiel zur Oktoberfestzeit ganze Redaktionsabteilungen zu schaffen, die vom Interview, bis zur Live- Übertragung, von der Mode, bis zum Klatsch und Tratsch, alles dazu medialisieren und veröffentlichen (die Bildstrecken werden immer länger). Jedes Jahr ein wenig mehr, analog den Bierpreisen, analog dem ungebrochenen Run, international organisiert, wird zum Beispiel ein Teil der Süddeutschen Zeitung und des Bayern- TVs, zu einer möglichst 1:1 Abbildung des Geschehens.
Sogar eine neue Geschichte erfindet sich so und baut sich aus: Oktoberfest einst und jetzt, als mediales Angebot. Original Oktoberfest, in historischer Aufführungspraxis, Promi- Stadl- Oktoberfest, das richtige Besäufnis- Oktoberfest mit medialer Trink- und Feieranleitung, nebst Hinweisen zu Ins and Outs, Oktoberfest am Ballermann. Usw.
Ich hoffe, ich war bildhaft genug. - Diese Betrachtung lohnte sich auch für Wagnerfestspiele zu Bayreuth.
So kommt es, dass trotz des Ideals eines ausdifferenzierten Individualismus, doch eine bemerkenswerte Verengung auf wenige und häufige Muster, z.B. in der Kultur, möglich wird.
Die Verarbeitungskapazität eines jeden Menschen ist beschränkt, keine Frage. Aber freiwillig und erzwungen, ist die Einengung durch soziale Vorgaben noch viel weitergehender, als je individuell erforderlich. Wir müssen Freizeitarbeit leisten und viel mehr Konformität zeigen, als wir es uns eingestehen können. Dahinter steckt natürlich eine Drohung, die nicht aus dem Inneren kommt, nicht aus der Entdeckung der eigenen Seele.
Helau
Christoph Leusch
Ja. Wichtig wäre aber auch, anderen Zeit zu lassen.
Das ist einerseits richtig, andererseits wäre es naiv, sich darauf zu verlassen, dass Zeit gewährt wird. Es ist richtig, dass alles besser geregelt sein könnte, andererseits wäre es naiv, auf die Regelungen zu warten. Und zu kämpfen ist auch nicht jedermans Sache, zumal der Kampf wieder die Zeit kostet, die nicht gewährt wird, die sich also auch genommen werden müsste.
Was die Universalisierung der Individualisierung angeht: Werbung funktioniert, oder? Warum wohl? Weil wir alle so einzigartige, unverwechselbare Individuen sind? Oder doch eher, weil wir uns so einzigartig individuell vorkommen, in unserer faktischen Uniformität?
Man kann sich selbst und anderen über Leben und Sosein in beliebigem Ausmaß die Hucke vollügen. Letztlich ist man darin doch nichts anderes als ein betrogener Betrüger.
Aber das ist wahrscheinlich wieder zu pessimistisch^^
"Was die Universalisierung der Individualisierung angeht: Werbung funktioniert, oder? Warum wohl?"
Man kann sich gegen die Werbung ziemlich gut immunisieren. Ich denke doch, dass mir das ziemlich gut gelingt. Das fängt damit an, dass der Briefkasten keine Werbepost mehr enthält, außer dem einen oder anderen Katalog, den ich selbst will. Dafür waren einige Aktionen zu tätigen, um diesen Zustand zu erreichen.
TV fällt auch aus, da ich kaum Private sehe und wenn doch mit Aufzeichnung und übergehen der Werbeblöcke. Das geht problemlos mit TechniSat-Festplattenrecorder.
Ansonsten bei Presseartikeln habe ich einen "Ausblendungsmechanismus", da fällt Werbung einfach raus. Und im Alltag sonst vermeidet man tunlichst Paybackkarten und ähnliche Konstrukte, um die Daten nicht freiwillig zu verteilen.
Und hier im Netz habe ich mich weitgehend der Werbung entzogen mittels Software und entsprechender Anonymität. Und wenn Werbung trotzdem noch im Emailaccount "durchschlägt", dann nicht in meinem "Schichtenmodell", wo ich mich unterschiedlich "offen" bewege.
Ich würde mal behaupten: Werbung wäre tot, wenn das zum Standard würde.
Wie wäre es denn mit einer Mischung aus Pessimismus und Optimismus, Lethe?
Weil doch ein Hang zum Trampelpfad in vielen Dingen erkennbar ist und diese Trampelpfade oft von Menschen beschritten werden, die von sich selbst fest glauben, sie dächten und handelten exklusiv und völlig individuell, laufen doch sehr viele auch andere Strecken und finden dabei was, entdecken was, schreiben anders, denken anders. Diese Menschen mögen sich selbst als dysfunktional empfinden, so auch stigmatisiert und behandelt werden (als Kranke, Böse, Wahnhafte,..., Entdecker, Erfinder, Stilsucher und Kreative).
Ja, es ist durchaus nicht so, dass feststeht, über den anderen Weg zu besseren Ansichten, Lösungen und Konzepten zu kommen oder überhaupt was zu entdecken. Aber klar ist, dass es selbst in der formiertesten Gesellschaft und unter dem härtesten Druck von außen, Abweichung gibt und diese Abweichung keinesfalls negativ zu sehen ist.
Gutes Wochenende
Christoph Leusch
Es gibt Ausnahmen und Möglichkeiten, klar. Aber die Branche setzt nicht jedes Jahr dreistellige Milliarden-Beträge um, weil die Welt vollgestopft mit Ausnahmen wäre.
Aber klar ist, dass es selbst in der formiertesten Gesellschaft und unter dem härtesten Druck von außen, Abweichung gibt und diese Abweichung keinesfalls negativ zu sehen ist.
Ja. Und unsere Gesellschaften sind zu diesen von Liebe und Wohlwollen durchfluteten Paradiesen geworden, als die sie anscheinend erscheinen, weil alle diese Ausnahmen einen ernsthaften Gegenpol zum gewöhnlichen Machtabgleich gebildet haben.
Korrekt, aber zur Änderung würde die Einsicht in die Notwendigkeit vieler ausreichen.
"Langsamkeit ist kein Selbstzweck, ein langsames Internet ist nervig, ein langsamer Notarzt kann sogar tödlich sein."
Rosa stellt dar, wie eine stete Beschleunigung (Anm.: Die doch eine um ihrer selbst willen ist) und unsere Illusion vom Zeitgewinn alles nur "schlimmer geworden" sei. So, und dann kommen zum Ende des Interviews solche Beispiele, wie hier zitiert. Was soll ich nun davon halten? Das Beispiel des Notarztes könnte einer blöden Polemik entspringen - also ob Entschleunigung ein Aufhalten von Notarztwagen beinhalten müsste. Die Klage vom nervenden Internet, wenn es langsam ist, ist wiederum ist ein exaktes Symptom für die "schlimmer gewordenen" Zustände betreffend unsere Zeit und Kommunikation und letztlich das Soziale im Ganzen. Was will mir also am Ende der Akademiker noch von Zweifeln über ein, unser, "falsches Werteverhältnis" erzählen?
Schade, das Interview geht gut los, wird dann stark - und fällt am Ende leider umso stärker ab.
"Das geht problemlos mit TechniSat-Festplattenrecorder."
Darf ich das jetzt als Werbung verstehen?
:-)
"Zeit ist ein Maß für Wichtigkeit. Jeder kann also selbst ermessen, wie wichtig ihm die einzelnen Elemente seines Lebens sind. Nicht jeder hält aus, was das über ihn aussagt."
Dazu möchte ich Dreierlei, miteinander Verbundenes, sagen:
1.) Das hätte so auch ein Athener Philosoph, freilich aristokratischer Abstammung, sagen können. Erste Lebensaufgabe: Wie bringe ich den Tag am besten rum?
2.) Die Feststellung ist somit auch eine schallende Ohrfeige für alle die, die sich eine Frage wie unter Punkt 1 nicht stellen können.
3.) Wenn Zeit ein Maß für Wichtigkeit sei, so sagt das einiges über unsere Freiheit resp. Unfreiheit aus.
Prima Anmerkung. Der Gedanke kam mir auch, als ich den Kommentar abgeschickt hatte. :-)
Bewirke sie. Die Änderung der Einsicht vieler.
freilich aristokratischer Abstammung
Philosophen, die nicht vorne- oder hintenrum mit der Aristokratie verheiratet oder verschwägert sind, finden sich erst recht spät in der Philosophiegeschichte^^
eine schallende Ohrfeige
Weiß nicht. Eher ein trauriger Abgesang auf den selbstbestimmten Menschen.
so sagt das einiges über unsere Freiheit resp. Unfreiheit aus
deswegen eher ein Abgesang
Der Zwang zur Kapitalakkumulation schafft eben keinen Fortschritt, weil dem Skalar ein Richtungspfeil fehlt, der aus ihm einen Vektor machte.
Wie meinen Sie das? Ein Akkumulationsprozess ist doch offensichtlich gerichtet. Die Richtung wird durch das Vorzeichen der 1. Ableitung der Entwicklung des Kapitals mit der Zeit bestimmt, das bei einer Akkumulation positiv ist. Bei einem Kapitalverlust wäre es negativ und bei einer Stagnation wäre die Ableitung Null.
Man braucht keinen Vektor, um einem Prozess eine Richtung zu geben. In der Physik und Chemie wird die Richtung spontaner Prozesse durch eine Abnahme der freien Energie vorgegeben oder in isolierten Systemen durch eine Zunahme der Entropie. Es ist dann wieder nur das Vorzeichen der 1. Ableitung, das die Richtung bestimmt.
Ob man einen gerichteten Prozess nun allerdings als Fortschritt oder Verfall ansieht, ist keine mathematische oder naturwissenschaftliche Frage. Das hängt immer vom Menschenbild ab, das man voraussetzt und davon, was man für den Menschen (oder für das Weltganze oder für Gott) als wünschenswert ansieht.
Diesen für die Definition von "Fortschritt" notwendigen Ausgangspunkt kann man nicht aus ersten Prinzipien exakt herleiten. Deshalb handelt es sich immer um eine Meinung, wenn jemand sagt, dieses oder jenes sei Fortschritt oder nicht. Menschen können verschiedene Meinungen haben, ohne dass sich abschliessend feststellen liesse, welche die richtige ist.
Man kann sogar schliessen, und das ist durchaus ein marxistischer Gedanke, dass ein bestimmter Prozess unter manchen historischen Umständen ein Fortschritt und unter anderen ein Rückschritt sein kann.
Dass es Zeiten gab, in denen Kapitalakkumulation eindeutig ein Fortschritt war, ist schon fast keine Meinung mehr, weil Sie nur wenige Menschen finden dürften, welche die Lebenserwartung und die Lebensumstände vorziehen würden, die wir ohne Kapitalakkumulation heute noch hätten.
Ob freilich Kapitalakkumulation heute noch ein Fortschritt ist, darüber liesse sich trefflich streiten.
die Einsicht in die Notwendigkeit vieler
Das mag eine hinreichende Bedingung sein, zugleich ist aber die Wahrscheinlichkeit, dass diese Bedingung erfüllt wird, exakt Null.
Es gibt in politischen, historischen und soziologischen Fragen fast keine exakten Aussagen. Dass aber eine wünschenswerte Entwicklung dadurch erreicht werden kann, dass eine Bevölkerungsmehrheit zu einer rationalen Einsicht gelangt, kann man mit Sicherheit ausschliessen.
Ein Bild ist ein Bild, Gunnar Jeschke. Sie schreiben es doch selbst. Es wird getan, als ob diese Prozesse der Akkumulation natürlich und spontan seien. Unter Menschen aber, stellt sich doch die Hauptfrage: Wozu?
Um zum Mars zu fliegen, rechnen Sie besser mit Skalaren, sonst kommen Sie nie an.
Dass die Vermehrung/Verminderung eines Haufens irgendwann als Selbstrichtung und Selbstausrichtung gedeutet werden kann, mag uns, Plus- Minus, die erste Ableitung sagen. - Das wollte ich aber bestimmt nicht sagen, sondern lieber betonen, dass es darum geht, zu bestimmen, wohin der Fortschritt zielt. Ich gehe sogar so weit, es als Grundforderung zu sehen, vor allem dazu Auskunft zu geben und diese einzufordern.
Um aktuell zu sein: Die Frage, "Wie mit der Flüchtlingskrise umgehen?", kann nur beantwortet werden, wenn diejenigen die Pläne haben, sagen was sie vorhaben.
Da kommt dann heraus, dass einige vorhaben zu schießen, hätten sie das Sagen. Die haben an den Vektor ihren Richtungspfeil gehängt. Bei der Kapital-Akkumulation ist das auch so. Die ist kein Zweck an sich, auch wenn sie auf den Finanzmärkten so betrieben wird und das "Immer mehr" vor allem auch dummen Bauern (Verzeihung an den Landstand), selbst wenn sie gar nichts davon haben, einleuchtet.
Schönen Sonntag und Helau
Christoph Leusch