der Freitag: Herr Rosa, normalerweise beginnt man ein Gespräch wie dieses mit dem Dank, dass Sie sich die Zeit dafür genommen haben. Vor zwei Jahrzehnten wäre ich wahrscheinlich nach Jena gefahren, um Sie zu treffen und wir hätten mehr voneinander mitbekommen als nur eine Stimme am Telefon. Wir sind gewohnt, solche Dinge zu beschleunigen. Was bedeutet es, immer mehr Dinge in immer weniger Zeit zu tun?
Hartmut Rosa: Wir sind daran interessiert, unsere Aufmerksamkeit möglichst zu optimieren. Wir müssen nicht erst Kaffee auf den Tisch stellen und uns danach erkundigen, wie die Reise war. Aber damit passiert auch etwas, was ich als zunehmenden Entfremdungsprozess beschreiben würde. Wir schauen uns nicht in die Augen, begegnen uns nicht. Wir konzentrieren uns darauf, möglichst schnell ein präzises Gespräch zu führen, was aber gleichzeitig unser Verhältnis zur Welt verändert. Auf der Strecke bleibt dabei das, was ich Resonanzbeziehung nenne. Uns zu begegnen heißt, uns aufeinander einzulassen. Wir wissen aber auch nicht genau, was bei dieser Begegnung herauskommt.
Als ich gestern dieses Interview vorbereitet habe, hätte ich gleichzeitig auf einer Tagung sein, aber auch etwas für meine Gesundheit tun sollen. Wir leben in einer Zeit unendlicher Möglichkeiten, etwas, das eigentlich eher dem Jugendalter vorbehalten ist. Befinden wir uns in einer juvenilen Dauerschleife?
Ja, wir leben in einer Art von Dauerpubertät, weil unsere hochdynamischen Systeme uns dazu zwingen, uns ständig Optionen offen zu halten und daran zu denken, was wir morgen machen wollen. In der Pubertät versuchen wir unseren Platz in der Welt zu finden. Inzwischen ändern wir auch als Erwachsene ständig unsere Position. Wir sind nicht mehr Sozialdemokrat, sondern haben bei der letzten Wahl höchstens sozialdemokratisch gewählt. Wir werden in Zukunft immer mehr in einem Modus des Versuchs leben. Es geht aber nicht nur um einen Optionshorizont, der durch Prioritätensetzung gebändigt werden könnte. Ihr Beispiel zeigt ja, dass es im Alltag nicht nur zu einem Missverhältnis von Möglichkeiten und ihrer Realisierung kommt, sondern zu einer Kluft zwischen den Aufgaben, die man legitimerweise von uns erwarten kann und unseren Zeitressourcen. Sie hätten ja auf die Tagung gehen können. Gleichzeitig kann man von Ihnen auch erwarten, dieses Interview sorgfältig vorzubereiten. Ihr Arzt wird Ihnen raten, etwas kürzer zu treten. Was ansteigt, sind die legitimen Erwartungen an unser Zeitbudget.
Zur Person
Hartmut Rosa (50) ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Er lehrt an der Universität Jena und ist Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt
Obwohl wir alles autonom zu entscheiden meinen, haben wir immer mehr das Gefühl, uns falsch zu entscheiden und etwas zu verpassen. Gibt es in der spätmodernen Gesellschaft dafür Regeln oder Antriebskräfte?
Zunächst erleben wir so etwas wie eine Entscheidungskrise, allen klugen Ratgebern zum Trotz. Vom banalen Alltag bis in die politische Sphäre stellen wir fest, dass uns die Kriterien für unsere Entscheidungen ausgehen. Sollen wir in den Syrien-Krieg ziehen oder nicht? Sollen wir uns gegen die Flüchtlinge absichern oder die Grenzen einfach öffnen? Ähnlich geht es Studierenden bei der Wahl ihres Studienfaches. Es gibt keine guten Gründe mehr für das eine oder andere. Wenn wir uns entscheiden, was wir ja täglich tun müssen, folgen wir der Vergrößerung von Weltreichweite.
Was meinen Sie damit?
Diesen Begriff würde ich einführen, um zu erklären, wie wir uns die Welt verfügbar und zugänglich machen. Warum wollen Menschen in der Stadt leben? Weil sie die Dinge in Reichweite haben, Kino oder Restaurants, egal ob wir sie frequentieren oder nicht. Auch Geld bringt Welt in Reichweite, ich kann etwa nach Rio fliegen. Ähnliches gilt für das Smartphone, mit dem ich mir die Welt zugänglich mache. Und genau genommen liegt in der Erreichung von Weltreichweite immer schon ein Moment der Aufschiebung.
Wie meinen Sie das?
Wir träumen von mehr Reichweite in der Hoffnung, irgendwann dem Menschen zu begegnen, den wir lieben. Warum wollen wir zu Spotify? Weil wir alle Musik in Reichweite haben, die uns ansprechen könnte. Wir entscheiden uns für Resonanzmöglichkeiten, um potenzielle Beziehungen anzusammeln. Die 700 Freundschaften bei Facebook sind ja nicht als tiefe Beziehungen zu realisieren.
Die klassische Moderne hat versucht, den Menschen mit der technischen Zivilisation zu synchronisieren. „Der Mensch ist der Fehler“, sagte schon Brecht, der ahnte, dass das nicht klappt. Die digitale Revolution hat den Menschen nun endgültig auf die Überholspur gesetzt. Gibt es dafür so etwas wie eine anthropologische Grenze?
Dieses Synchronisationsprojekt hat ja nie wirklich geklappt.
Die technische Beschleunigung verspricht uns ersparte Zeit, sei es durch das Flugzeug oder die Mikrowelle. De facto ist es aber schlimmer statt besser geworden, weil die Weltmöglichkeiten die Welterwartungen explodieren lassen. Nur weil es Telefon und Internet gibt, können wir dieses Interview führen, aber dadurch ist das Missverhältnis zwischen benötigter und verfügbarer Zeit gewachsen. Dennoch lassen wir uns von der Illusion der Beschleunigung täuschen und glauben, wenn etwas technisch etwas schneller zu bewerkstelligen wäre, hätten wir mehr Zeit. Die anthropologische Grenze, nach der Sie fragen, liegt in unserer psychischen und kulturellen Verarbeitungsfähigkeit, wenn es darum geht, etwa Wertorientierungen weiterzugeben oder einen bestimmten Habitus auszubilden. Die ansteigenden Burn-out-Raten verweisen auf die Überforderung aufgrund der hohen sozialen Geschwindigkeit.
Es gibt unverfügbare Bereiche für Beschleunigung, Kindererziehung etwa oder die Pflege von kranken oder alten Menschen, die leibliche Anwesenheit erfordert. Fluide Existenzweisen sind damit doch ganz und gar inkompatibel.
Bildungs- und Pflegeprozesse lassen sich zeitlich tatsächlich nicht beliebig verdichten oder optimieren. Gerade dabei kommt es auf die Herstellung von Resonanzbeziehungen an. Es geht nicht um Kompetenzaneignung wie beim Erlernen einer Sprache oder der strukturellen Analyse eines Gedichts. Ob den Schüler ein Gedicht „anspringt“, ist auch von der leiblichen Begegnung im Klassenzimmer abhängig, vom direkten sinnlichen Austausch. Bildungs-, Pflege- oder Erziehungsprozesse zeitlich optimieren oder anderweitig verfügbar machen zu wollen, untergräbt den Charakter dieser Beziehungen.
Wir erleben Beschleunigung nicht nur im Alltagsleben, auch unser gesamtes Umfeld, insbesondere Politik und Wirtschaft, dreht sich immer schneller. Treibt Beschleunigung Krisen hervor?
Viele Krisen, die wir momentan beobachten, etwa die ökologische Krise, sind Ausdruck von Entfremdungsphänomenen. Wir dringen immer weiter vor in die Gletscher und in die Erdtiefen wie beim Fracking und machen uns die Natur verfügbar, verlieren sie aber als Resonanzsphäre. Ähnlich sehe ich das in der Politik. Wir erleben eine tiefe Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern und laufen Gefahr, Politik als Resonanzraum zu verlieren, in dem wir Welt gemeinsam gestalten. Demokratie war einmal das Versprechen, dass uns die Welt nicht „stumm“ oder gar feindlich gegenübertritt, sondern antwortet. Wenn wir uns von Fremdem aber nur bedroht fühlen, führt das zu Resonanzverweigerung und Abschließung aus Angst vor Verletzung.
Bürger, die keinen Resonanzraum mehr finden, gehen im harmlosen Fall also zu Facebook und im weniger harmlosen zu Pegida?
Die Wutbürger bringen ihren Protest zum Ausdruck. Sie wollen gehört werden und sagen das auch so. Das finde ich erst mal nicht falsch. Gleichzeitig wollen die Leute bei Pegida aber auch gar nichts mehr politisch gestalten. Die zum Ausdruck gebrachte Unzufriedenheit verwandelt sich bei ihnen in Repression, man attackiert Politiker oder will Flüchtlinge aus dem Land treiben. Sie erleben sich in einer kalten, toten Welt und hoffen, im „einen einzigen Volk“ zu verschmelzen. Wenn man aber nicht mehr dem Anderen, sondern nur noch seinen Spiegelbildern begegnet, entsteht eine identitäre Demokratie, die wie eine Echokammer widerhallt.
Was wir hier diskutieren, stammt aus dem Arsenal der klassischen Kulturkritik. Sie sind aber eigentlich gar kein Kulturkritiker und glauben zum Beispiel auch nicht an Entschleunigung.
Stimmt, ich wollte nie Theoretiker der Entschleunigung sein. Weder war früher alles gut, noch glaube ich daran, dass durch Verlangsamung die Dinge besser würden. Langsamkeit ist kein Selbstzweck, ein langsames Internet ist nervig, ein langsamer Notarzt kann sogar tödlich sein. Ich würde es eher mit Ernst Bloch und seiner Definition von Heimat halten. Er sagt, Heimat ist ein Land, in dem noch keiner war, es scheint uns aus der Kindheit her. Kinder leben stärker in Resonanzbeziehungen als Erwachsene. Wir haben zwar eine Idee davon, wie eine resonante Welt aussehen könnte, sie ist bisher aber noch nicht realisiert worden. Was wir erreichen, sind höchstens kleine Resonanzoasen.
Es war immer ein marxistischer Traum, dass sich die Menschen durch die Entwicklung der Produktivkräfte frei entfalten, allerdings unter der Voraussetzung, die Produktionsverhältnisse zu verändern.
Damit stimme ich auch völlig überein. Was ich als die Vergrößerung der Weltreichweite beschreibe, ist strukturell mit der kapitalistischen Wirtschaft verbunden, mit Wettbewerb und Zwang zur Steigerung der Kapitalakkumulation. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das der Ausgangspunkt ist oder nicht vielmehr unser falsches Weltverhältnis, unsere Art, wie wir zu Arbeit und Eigentum in Beziehung treten. Es genügt also nicht, nur unsere Haltung zur Welt zu ändern und etwas achtsamer zu sein.
Illustrationen zu dieser Ausgabe
Die Bilder der Ausgabe sind illustrierte Zukunftsvisionen von Klaus Bürgle aus dem letzten Jahrhundert: „90 Prozent waren Forscherwissen, das andere Fantasie und Konstruktion.“ Mehr über den extraterrestrischen Grafiker erfahren Sie im Beitrag von Christine Käppeler
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