Diese Morde werfen Fragen auf

Pflege Der Fall Högel wirft einen Schatten auf die gesamte Branche
Ausgabe 24/2019
Seltener Anblick in deutschen Krankenhäusern: leere Betten. Hier wird ein strukturelles Problem sichtbar, das Kriminalität Tür und Tor öffnet
Seltener Anblick in deutschen Krankenhäusern: leere Betten. Hier wird ein strukturelles Problem sichtbar, das Kriminalität Tür und Tor öffnet

Foto: Imago Images/Westend61

Unfassbar. Alle Grenzen sprengend: Die Sprachlosigkeit war Richter Bührmann zum Abschluss des Aufsehen erregenden Prozessses am Landgericht Oldenburg anzumerken. Mit dem Urteil „lebenslänglich“ und „besondere Schwere der Schuld“ ging vergangene Woche der größte Serienmordprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte zuende. In 85 Fällen wurde der 42-jährige ehemalige Krankenpfleger Niels Högel für schuldig befunden, zwischen 2000 und 2005 seinen Patienten in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst ein tödliches Medikament gespritzt zu haben. In 15 Fällen wurde er freigesprochen, aus Mangel an Beweisen. Über die Zahl der Opfer, die nicht mehr exhumiert werden können, lässt sich nur spekulieren.

Das Recht ist wiederhergestellt, der Schrecken aber sitzt tief. Patienten, die besten Glaubens die beiden Krankenhäuser aufsuchten, um zu gesunden, fielen in die Hände eines skrupellosen, selbstherrlichen Todesengels, der am Ende seiner Mordserie innerhalb von zwei bis drei Schichten einen Menschen tötete, junge und alte, da machte Högel keinen Unterschied. Ihm kam es – zumindest anfangs – darauf an, sich bei der Reanimation als „Retter“ zu profilieren. Oft genug überlebten seine Opfer das nicht.

Sicher ist Högel ein Einzelfall, was Ausmaß und Gewissenlosigkeit seiner Taten betrifft. Doch der Schrecken beschränkt sich nicht auf Högel, sondern hat eine institutionelle Dimension. Wie ist es möglich, dass ein einfacher Pfleger mordend durch die Stationen zieht, und dabei scheinbar unbemerkt bleibt? Fiel niemandem die rasant ansteigende Sterberate auf, wenn Högel Dienst tat? Der Verbrauch an Herzmitteln? Warum wurde er wie in Oldenburg, nachdem er „auffällig“ wurde, nur auf eine andere Station versetzt? Warum durfte er als Altenpfleger arbeiten, als bereits gegen ihn ermittelt wurde?

Dass es Anzeichen für sein kriminelles Tun gab, wurde im Prozess offensichtlich. Kollegen hatten versucht, Vorgesetzte zu alarmieren, scheiterten offenbar aber an den Klinikhierarchien und einer Abschottungsmentalität, die „Schmutz“ unter der Decke zu halten sucht. Einige Ärzte- und Pflegedienstleiter werden sich dafür noch verantworten müssen. Doch was im Fall Högel aufscheint, lässt gruseln, wenn man an zunehmenden Pflegekräftemangel und unterbesetzte Stationen denkt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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