Zwischen der öffentlichen Rede über Sex und der institutionalisierten akademischen Beschäftigung mit Sexualität besteht eine bemerkenswerte Diskrepanz. Steigert der fantasielos entblößte Körper die Auflage, befriedigt noch die abgelegenste Sexualpraktik die Sensationslust, gar nicht zu reden vom schnellen Kick per Cybersex, so führt die Disziplin in akademischen Gefilden ein randständiges Dasein. Gerade mal drei Lehrstühle für Sexualwissenschaft zählt die Republik, und der prominenteste in Frankfurt ist kürzlich in die Schlagzeilen geraten, weil unklar ist, ob und wie er nach Volkmar Siguschs Emeritierung wieder besetzt wird. Gemessen an den üppigen Ausstattungen anderer Disziplinen in den so genannten "Lebenswissenschaften" ist die Situation der sexualwissenschaftlichen Abteilungen jämmerlich. Sie sind personell unterbesetzt und auf Gedeih und Verderb von der Einwerbung von Drittmitteln abhängig, was sie zur leichten Beute der Pharmaindustrie macht. Es bedarf dann schon eines wissenschaftlichen Rückgrats und finanzorganisatorischen Talents, diesem Druck zu widerstehen.
Ein Grund dafür ist sicher, dass die Disziplin nach 1933 einen herben Rückschlag erlitten hat, als die fast durchweg jüdischen Sexualwissenschaftler das Land verlassen mussten und in alle Welt verstreut wurden. Dass sie etwa in den USA nicht in ähnlicher Weise Fuß fassen konnten wie andere Sozialwissenschaftler, lag, wie Erwin Haeberle als Kenner der transatlantischen Emigrationsszene meint, auch daran, dass die Rockefellers 1914 zwar Mittel für die erste sexualwissenschaftliche Gesellschaft in Amerika locker machten, die Einrichtung den Auftrag jedoch stillschweigend sabotierte und das Geld der biologischen Forschung zukommen ließ.
Andererseits scheint der Aderlass der deutschen Geisteselite, der schließlich auch die meisten anderen Fächer traf, keine wirklich befriedigende Erklärung dafür, warum erst in den siebziger Jahren - und nur auf Druck der Studenten- und Frauenbewegung - in Frankfurt wieder ein erster sexualwissenschaftlicher Lehrstuhl eingerichtet wurde. In Berlin, wo Magnus Hirschfeld sein weltweit renommiertes Institut betrieb, bis es von den Nazis geplündert wurde, brauchte es sogar eine politische Wende, bis sich an der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität ein entsprechender Lehrstuhl ansiedeln konnte. Die Ursachen, ist anzunehmen, haben mit dem Fach selbst zu tun, mit seiner strategischen Positionierung im Wissenschaftsfeld und den Herausforderungen, die "Sexualität" als wissenschaftlicher Gegenstand in sich birgt.
Eine wohl ganz unbeabsichtigte Spur legte der vergangene Woche vom besagten Berliner Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin (vertreten durch Professor Klaus Beier) veranstaltete Festkongress, der mit dem Motto "was bindet uns?" an die genau 100-jährige Geschichte der Zunft erinnern sollte. Deutlich wurde, dass die Sexualwissenschaft ein Kind des naturwissenschaftlichen Zeitalters ist. Auf den Weg gebracht von Darwins Evolutionstheorie und der Vererbungslehre, auf der Krafft-Ebings wegweisende Psychopathia sexualis und seine Lehre von der sexuellen Degenration baute; vorangetrieben von Kretschmers Konstitutionsbiologie und flankiert von den Anfängen der modernen Hormonforschung, dominierten auf dem sexualwissenschaftlichen Feld von Beginn an die Mediziner. Krafft-Ebing war Neurologe und Psychiater, Iwan Bloch Dermatologe und der in die gesellschaftliche Breite wirkende Magnus Hirschfeld war, wie schon sein Vater, Sanitätsrat.
Doch so selbstverständlich dieser naturwissenschaftliche Ursprung auf den ersten Blick scheint, waren die "Väter" der Sexualwissenschaft doch auch einer humanistisch-idealistischen Tradition verpflichtet. In dem Maße, wie sich die Naturwissenschaften zunehmend des Leibs und der Seele des Menschen bemächtigten, ging die Entscheidung darüber, wie Männer und Frauen zu sein, wie sie miteinander umzugehen und ihre Sexualität zu leben hatten, von der Religion auf die Philosophie und die sich entwickelnde Individualpsychologie über. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die Ausbildung der bürgerlichen "Geschlechtscharaktere", die strikte ideologische Trennung des "Männlichen" und "Weiblichen", in eine Zeit fällt, in der sich auch die naturwissenschaftlichen Kenntnisse über Geschlecht und Fortpflanzung mehren.
Iwan Bloch, der den Begriff Sexualwissenschaft vor genau 100 Jahren im deutschsprachigen Raum einführte, war, das zeigte Bernhard Egger im Durchgang durch dessen Schriften, ein solcher "Doppelagent" zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Zwar pochte er auf das Primat der Biologie, vorab der Vererbung und der damit einhergehenden Variabilität, gleichzeitig bestand er darauf, Sexualität als kulturelles Phänomen zu fassen, womit er das zeitgenössische "Leib-Seele-Problem" zu überwinden trachtete. Die reinliche Scheidung der beiden Geschlechter hielt auch Bloch für unhintergehbar, weil, so glaubte er mit Freud, nur die Geschlechterspannung zivilisatorischen Fortschritt garantiert; gleichzeitig ließ die zunehmend anthropologische Grundierung seiner Sexualtheorie ihn aber auch die "Entartungs"-Theoreme Krafft-Ebings ablehnen. Homosexualität etwa war für ihn kein Zeichen von Kulturverfall, sondern angeboren.
Für die einflussreiche Sexualwissenschaftliche Gesellschaft, der er unter anderen vorstand, reklamierte er, sie habe "der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Sexualwissenschaft mit so vielen Grenzgebieten der Natur- und Kulturwissenschaft Berührung hat, dass auf die Mitarbeit von Naturforschern, Philosophen, Theologen, Juristen, Soziologen und Kulturforschern nicht verzichtet werden kann". Interdisziplinarität, um diesen modernen Begriff zu verwenden, forderte Bloch also schon vor 100 Jahren für sein Fach; doch damit tut sich die Sexualwissenschaft offenbar bis heute schwer, zumindest in Berlin. Ließ der historische Auftakt der Tagung noch anderes vermuten, wurde das Feld dann doch weitgehend von Medizinern und klinischen Psychologen dominiert, die über Sexualhormonforschung, neuronal gesteuerte Bindungsstile, assistierte Reproduktion oder Kindesmissbrauch und die Therapie pädophiler Männer (vgl. Interview) berichteten.
Wer beispielsweise die nahe liegende Frage beantwortet wissen wollte, weshalb sich auffällig viele Juden in der Sexualwissenschaft tummelten, blieb etwas unbefriedigt zurück und musste auf der Suche nach weitergehenden Erklärungsmustern schon zu dem von Elke-Vera Kotowski (die selbst über das jüdische Umfeld referierte) und Julius Schoeps herausgegebenen lesenswerten Sammelband über Magnus Hirschfeld greifen, in dem die Berliner Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun einen klugen religionsgeschichtlichen Erklärungsansatz liefert. Die jedoch war auf der Tagung so wenig vertreten wie die Gender-Forschung, die die Sicht der medizinisch orientierten Sexualwissenschaftler hätte ergänzen können, überhaupt.
Ähnliche Fehlanzeige auch, wo es um die problematischen Anteile der Sexualwissenschaft - etwa ihres Beitrags bei der Ausbildung und Popularisierung eugenischer Praxis - ging. Bis auf einen kurzen historischen Hinweis im Fall Bloch durch Egger blieb das Thema ausgespart, weil der der Kritischen Theorie anhängende Frankfurter Flügel, der diese Frage in der Vergangenheit offensiv diskutiert hatte, ebenfalls nicht zugegen war. Dabei wäre das Panel zum "Kinderwunsch" durchaus mit der Überlegung zu bereichern gewesen, auf welche Weise heutige Reproduktionsmediziner den Weg für vorgeburtliche Selektionsmethoden bereitet haben.
Ob Absicht der Veranstalter oder nur verunglücktes Tagungsmanagement: Es ist schon aufschlussreich für den Zustand der Disziplin, dass man nur "unter sich" sprach. Offenbar traute man dem interdisziplinären "Kitt" weniger als dem Bindungskitt in Paarbeziehungen. Womöglich hat sich die Sexualwissenschaft - wie schon das historische Pendant - von ihrer Bindung an die (heterosexuelle) Praxis und Fortpflanzung (und damit letztlich an das bevölkerungspolitische Paradigma) nicht wirklich gelöst, auch wenn betont wird, "deviante" Sexualpraktiken und Störungen nicht pathologisieren oder gar kriminalisieren zu wollen. Der Zwang zur Pathologisierung besteht aber schon dann, wenn Krankenkassen dazu bewegt werden sollen, beispielsweise für eine Geschlechtsumwandlung zu bezahlen. Gegen die klinische Vorführung von "Patienten mit geschlechtlicher Identitätsstörung" wehrte sich deshalb ein Bündnis transsexueller Aktivisten vor dem ehrwürdigen Langenbeck-Virchow-Haus; und es entbehrt nicht der Ironie, dass die tagenden Sexualwissenschaftler durch einen Polizeikordon vor ihnen geschützt werden mussten.
Wilhelm von Humboldt-Stiftung gegründet
Die an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ansässige Alexander von Humboldt-Stiftung gibt es schon lange; auf den Gedanken, seinem Bruder Wilhelm dieselbe Ehre zu erweisen, ist in Berlin offenbar noch niemand gekommen - vielleicht, weil sich keiner so recht an dem Universalgenie vergreifen wollte und es außerdem als Namensgeber der Universität schon ausgereizt ist. Nun sind Klaus Beier und seine Mitstreiter auf die Idee verfallen, Wilhelm von Humboldts humanwissenschaftliche Erkenntnisse, die, so die offizielle Verlautbarung, das "sexualwissenschaftliche Fachparadigma" nachhaltig geprägt haben sollen, zu beleihen und sein Vermächtnis in einer Stiftung fortzuführen. Das in Wilhelm von Humboldts Schriften aufscheinende "biopsychosoziale Verständnis des menschlichen Wesens und seiner Geschlechtlichkeit" sei "ein wesentlicher Ausgangspunkt" der in Berlin betriebenen Sexualwissenschaft und Sexualmedizin. Die Stiftung wurde im Rahmen eines Festaktes aus der Taufe gehoben.
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