Da hat die Politik gerade noch einmal die Kurve gekriegt. Eine Woche vor der Bundestagswahl wurde die Kanzlerin in der ARD-Wahlarena von dem Pflegeschüler Alexander Jorde mit der Nase auf einen Missstand gestoßen, den man im Berliner Regierungsviertel, wo die meisten privat versichert sind, lieber nicht zur Kenntnis nimmt, obwohl das Bettenhaus der Charité gerade mal 500 Meter entfernt liegt: die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften und der Frust des Berufsnachwuchses. Just zu dem Anfang vergangener Woche in Berlin und anderen Bundesländern ausgerufenen Verdi-Streik der Pflegekräfte schoben die Parteien das entsprechende To-do-Steinchen dann doch noch in die erste Reihe auf ihrem Agenda-brett und schickten ihre Spitzenleute in den Wettbewerb um den besten Pflegeversteher: „Einen kompletten Neustart in der Pflege“, forderte etwa Martin Schulz und versuchte damit, die Kanzlerin unter Zugzwang zu bringen.
Der Streiktermin war also geschickt gewählt. Der Ausstand begann an der Charité in Berlin und breitete sich dann über mehrere Bundesländer aus, mit Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen, wo der größte Düsseldorfer Arbeitgeber, das Uniklinikum (UKD), in Bedrängnis kam. Düsseldorf ist überhaupt ein gutes Beispiel dafür, wie kompliziert die Gemengelage der Beschäftigten im Krankenhaus ist. Betroffen vom Streik war dort weitgehend die Küche, weshalb Patienten einige Tage mit Eintopf und Suppe vorlieb nehmen mussten. Wie in vielen Krankenhäusern wurden am UKD bestimmte Dienste wie Reinigung und Küche im Rahmen von Rationalisierungsmaßnahmen an sogenannte Servicegesellschaften ausgelagert. In Düsseldorf erhalten deren Beschäftigte 400 bis 700 Euro weniger als ihre Kollegen und Kolleginnen bei der Muttergesellschaft, sie bekommen weder Weihnachtsgeld noch betriebliche Altersversorgung. Ihr Ausstand verfolgt ein klassisches Gewerkschaftsthema: Hey, Boss, ich brauch mehr Geld.
Der Mindestlohn ist ein Witz
In Düsseldorf traten aber auch die Pflegekräfte, die unmittelbar vom UKD angestellt sind, in den Streik. Sie fordern nicht mehr Geld, sondern bessere Arbeitsbedingungen, genauer gesagt einen Entlastungstarifvertrag. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Pflegemindestlohn bei nur 10,55 Euro (im Osten bei 10,05 Euro) liegt und bis Januar 2020 auf 11,35 (10,85) steigen soll – angesichts der Schwere der Arbeit und der damit verbundenen Verantwortung ein Witz. Aufgrund des leergefegten Marktes werden viele ausgebildete Krankenschwestern und Pfleger inzwischen aber erheblich höher honoriert. Ums Geld, sagten die Streikenden, gehe es ihnen aber nicht.
Am Uniklinikum Düsseldorf – und das betrifft die gesamte Krankenhauslandschaft der Republik – sind viele Stationen unterbesetzt, oft müssen Auszubildende in die Bresche springen, sind zuständig für zwölf und mehr Patienten. Zwei examinierte Kräfte sind verantwortlich für 32 bis 36 schwerkranke Patienten. „Angespannt, schwierig, beschissen“ sei die Situation, wird der Vorsitzende des Personalrats am UKD, Martin Koerbel-Landwehr, zitiert.
Derzeit arbeiten in Deutschland rund 392.000 Pflegekräfte in der Gesundheits-, Alten-, Kranken- und Kinderpflege. Der erwartete Fehlbedarf wird von der Bundesregierung auf 200.000 im Jahre 2025 geschätzt. Die Zahlen variieren, doch das Phänomen hat sich als „Pflegenotstand“ längst ins politische Vokabular eingebrannt. Der Beruf ist nicht (mehr) attraktiv, der Nachwuchs scheut die damit verbundenen Lasten und das geringe Ansehen. In einem Interview umreißt der Charité-Pflegeschüler Mirco Dreßler die Situation folgendermaßen: „Wir sehen das von außen, weil wir in der Schule das Idealbild vermittelt kriegen. Wir merken, dass man sich eben nicht die Zeit für Patientinnen und Patienten nehmen kann, die eigentlich benötigt wird und haben oft ein schlechtes Bauchgefühl, wenn wir nach Hause fahren. Um das zu verhindern, muss die Entlastung durch mehr Personal her.“
Die Streikenden an der Charité in Berlin fordern eine einzuklagende Mindestbesetzung pro Schicht, nachdem der 2016 abgeschlossene Tarifvertrag – ein Novum im deutschen Tarifwesen – eine Mindestbesetzung der Stationen vorgesehen hatte. Dieser wurde jedoch nicht umgesetzt, weshalb Verdi nun auf verbindliche Maßnahmen drängt. Das schließt die Klinikleitung kategorisch aus, weil sie dafür 300 Extrakräfte bereithalten müsste.
Dagegen verfolgte das Klinik-Management zu Beginn des Streiks eine Strategie der Einschüchterung und Eskalation, indem sie sich weigerte – wie sonst bei Ausständen üblich –, Patienten zu verlegen und mit der Streikleitung eine Notdienstverordnung zu vereinbaren. Vielmehr wurden die Beschäftigten auf den Stationen massiv unter Druck gesetzt, um sie vom Streik abzuhalten. Erst im Laufe der Woche sah sich die Klinikleitung gezwungen, Notdienste einzurichten. Eine Spezialität des Berliner Streiks besteht darin, dass er vom rot-rot-grünen Senat unterstützt wird, die zuständige Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD) die Verantwortung jedoch auf den Bund abwälzt, der es „verpennt“ habe, der dramatischen Entwicklung im Pflegebereich entgegenzusteuern. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller und dessen Finanzsenator, beide SPD, sitzen immerhin im Aufsichtsrat der Charité.
Die Pflegesituation ist nicht nur an den Unikliniken extrem angespannt. Insbesondere in den privatisierten Krankenhäusern wie beispielsweise an den Helios-Kliniken herrscht Notstand. In Dachau etwa schlug kürzlich der Kreisrat Alarm, weil laut Betriebsrat 2017 bereits fast 300 Gefährdungsanzeigen getätigt wurden, also Mitarbeiter der Dachauer Klinik Meldung machten, weil sie derart überlastet waren, dass sie die Versorgung der Patienten nicht mehr sicherstellen konnten. Da der Kreis nur noch minimale Anteile an der Klinik hält, ist sein Einfluss begrenzt. Die Privatisierung wird von manchen Politikern inzwischen als „schwerer Fehler“ betrachtet.
In Berlin hat Verdi den Streik vorübergehend ausgesetzt, obwohl sich die Arbeitgeber keinen Zentimeter bewegen. Doch schon in der kommenden Woche soll der Streik in die nächste Runde gehen. Mit „mehr Aufmerksamkeit für die Pflege“, wie die Kanzlerin vor der Wahl versichert hat, wird es aber ebenso wenig getan sein wie mit „Bürokratieabbau“ und dem Ausbau von „IT-Assistenzsystemen“, was der FDP zum Thema einfällt. „Mehr von uns ist besser für alle“: Zutreffender als das Motto der Charité-Streikenden kann man nicht ausdrücken, was in den Krankenhäusern und Pflegeheimen in Deutschland nottut.
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