Ende 1962 reiste Saul Friedländer von der Schweiz kommend nach Aumühle in Norddeutschland, um Großadmiral Dönitz, der nach Hitlers Selbstmord für kurze Zeit die politische Führung in Deutschland übernommen hatte, zu treffen. Er fuhr auf der alten Reichsautobahn den Rhein hinauf, wobei ihn, wie er in seinem Rückblick Wenn die Erinnerung kommt schreibt, "ein merkwürdiges Gefühl der Verzweiflung" überkam. Diese Autobahn, schien es ihm, hielt ihn "für immer in Deutschland gefangen; überall Deutschland, überall Deutsche. Ich hatte das Gefühl, in eine ausweglose Falle geraten zu sein." Auf "Hitlers Autobahn" vollzog Friedländer das nach, was die Juden empfunden haben mussten, als sich nach 1933 ein Schlupfloch nach dem anderen schloss, sie immer erbarmungsloser eingekreist und isoliert und schließlich ihren Mördern ausgeliefert wurden.
Dieses elementare Gefühl der Bedrohung und Schutzlosigkeit teilt sich ganz unmittelbar auch bei der Lektüre des Opus Magnum Das Dritte Reich und die Juden mit, für das der 1932 in Prag geborene, in Tel Aviv und Los Angeles lehrende Historiker in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wird. Kaum ein anderes Werk - Friedländer hat über 16 Jahre daran gearbeitet, und der zweite Band Die Jahre der Vernichtung (1939-45) erschien im vergangenen Herbst - vermittelt so eindringlich die Ausweg- und Hoffnungslosigkeit, in die die Juden auf dem gesamten europäischen Kontinent geraten waren.
Doch Friedländer ging es immer um mehr als die empathische Opfergeschichte, die ihm die Zunft als genuin Betroffenem des Holocaust zugestand. Die Täterseite war schon dem Kind, das die Nazi-Zeit in einem katholischen Internat überlebte, wohl vertraut. 1939 floh die assimilierte jüdische Familie aus Prag nach Frankreich, wo sie zuerst in Paris, später im nicht besetzten Süden Zuflucht fand. In der irrigen Meinung, als kinderloses Ehepaar eher Aufnahme in der Schweiz zu finden, ließen die Friedländers den einzigen Sohn in Sainte Béranger zurück. Doch sie kamen nicht über die rettende Grenze, weil die Schweiz nur Familien mit Kindern Asyl gewährte. 1942 wurden sie deportiert und in Auschwitz ermordet.
Allein gelassen und traumatisiert, passte sich das Kind unter dem neuen Namen Paul-Henri Ferland seiner neuen Umgebung an. Der "absolute Glaube" gab ihm Halt, eine Zeitlang dachte er sogar daran, Priester zu werden (umso unnachsichtiger wird der spätere Historiker Saul Friedländer mit der Rolle des Vatikans und der katholischen Kirche ins Gericht gehen). Was wäre passiert, fragt er sich in seinen Erinnerungen, wenn eine religiöse Fessel seine Eltern daran gehindert hätte, seiner Konversion zuzustimmen? Dieser doppelten Seinsweise jedenfalls - der katholischen seiner Kindheit und der erst später, nach seiner Auswanderung 1948 nach Israel ausgebildeten jüdischen - verdankte Friedländer die Fähigkeit, "alles Wesentliche durch ein besonderes Prisma zu sehen".
Der Anlass für die Monumentalstudie über die Juden im Dritten Reich, die Saul Friedländer als eine "integrierte Geschichte" von Tätern und Opfern verstanden wissen will, geht indessen auf den vor 20 Jahren tobenden, unseligen "Historikerstreit" und Friedländers Auseinandersetzung mit Martin Broszat, damals Leiter des Münchener Institut für Zeitgeschichte, zurück. Während die Protagonisten des Streits, Andreas Hillgruber und Ernst Nolte, unverhüllt die historische Relativierung des Holocaust einforderten, nahm Broszat eine mittlere Position ein, indem er für eine - moralisch zwar nicht relativierende, doch methodisch distanzierende - Historisierung des Nationalsozialismus plädierte und eine "einfühlende" Perzeption insbesondere des nationalsozialistischen Alltags vorschlug. Der eher "volkspädagogischen" und "mythischen Erinnerung", die Broszat implizit den jüdischen Historikern unterstellte, erteilte er eine klare Absage.
In dem darauf folgenden berühmt gewordenen Briefwechsel (nachgedruckt in Nachdenken über den Holocaust, 2007) zwischen Broszat und Friedländer scheinen wie in einem Brennglas all jene Konfliktpunkte auf, die schon im Historikerstreit virulent waren, aber seither wiederholt (nicht nur) die historische Debatte umtreiben. Broszats Diktum, dass eher die "nicht-betroffenen" (also nicht-jüdischen) Historiker zu "distanziertem Verstehen" und Erzählen fähig seien, trieb Friedländer auf die rhetorischen Barrikaden. Er polemisierte gegen die mindestens ebenso belastete "HJ-Generation" unter den Historikern, die es sich anmaße, neutral zu sein. Die Opfer des Holocaust und ihre Nachkommen, konterte Friedländer, büßten das Recht auf ihre Form der Erinnerung ein, "wenn eine nur noch wissenschaftlich operierende Zeitgeschichtsforschung mit akademischer Arroganz das Frage- und Begriffsmonopol in Bezug auf die NS-Zeit beansprucht."
Was Friedländer 25 Jahre zuvor auf der deutschen Autobahn widerfahren war, begegnete ihm im Historikerstreit und seinen Ausläufern noch einmal auf theoretisch-konzeptioneller Ebene: Einmal auf den "Zug der Historisierung" gesetzt, meinte er, könnte die "Reise bis zur Endstation des Historismus" führen und in den moralischen Relativismus. Broszats alltagszentrierter Perspektive, die dieser nicht mehr vom "zentralen Fokus Auschwitz" reglementiert sehen wollte und der Frage, wie viel die Deutschen gewusst haben, hielt er entgegen, dass die "Lust am historischen Erzählen" (Broszat) ihre Grenze findet an der "kriminellen Dimension" des NS. Überdies werde sie erkauft mit der Verdoppelung "nationalsozialistischer Exaltation" und seiner "frenetischen Selbstglorifizierung", die die gesamte deutsche Gesellschaft durchdrungen habe.
Die in diesem Briefwechsel angedeuteten Untiefen des "historischen Verstehens" waren bereits Thema in dem 1982 zuerst in Frankreich erschienenen, luziden Essay Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Der ästhetische Reiz des Nationalsozialismus, wie er sich in Büchern und Filmen niederschlägt, entfaltet sich nach Auffassung Friedländers nämlich im inszenierten Gegensatz von Kitsch-Mythos und apokalyptisch stilisiertem Tod. Ungeachtet der integren moralischen und ideologischen Positionen erzeugten Künstler wie Syberberg, Fassbinder oder Visconti auf diese Weise "ein Experimentierfeld für entfesselte Phantasien", deren Faszination um so nachhaltiger sei, wie der Prozess der Neutralisierung und die Relativierung des Holocaust im kollektiven Gedächtnis fortschreite.
In gewisser Hinsicht kündigt sich in Kitsch und Tod bereits eine Figur an, die das spätere historische Werk Friedländers theoretisch fundieren wird, den so genannten "Erlösungsantisemitismus" (Den Holocaust beschreiben, 2007). Gemeint ist damit eine den Nationalsozialismus bestimmende "pseudoreligiöse Erlösungs- und Untergangsideologie", die weit über den reinen Rassenantisemitismus reicht. Durch die Vernichtung der Juden und den (durchaus mitgedachten) eigenen Untergang, so das Versprechen, eröffne sich der Weg ins Paradies. Diese schon im späten 19. Jahrhundert ausgearbeitete Ideologie - und hier unterscheidet sich Friedländer erklärtermaßen vom quasi allen Deutschen eingepflanzten "genetischen" Antisemitismus eines Daniel Goldhagens - habe zwar die nationalsozialistische Bewegung infiltriert und bestimmt, nicht aber die gesamte deutsche Bevölkerung. Deren Schuld besteht vielmehr im wegsehenden Einverständnis, das die aggressive Politik der Nazis erst ermöglichte.
Während das Konzept des "Erlösungsantisemitismus" und der eher "intentionale", stark auf die Person Hitler fokussierte Ansatz Friedländers durchaus auch kritische Nachfragen provoziert haben, wurde der synthetischen Darstellung der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden einhelliges Lob zuteil. Dem Problem, wie ein so einmaliges und schreckliches historisches Ereignis angemessen vorzustellen ist, ohne die Opfer zum Objekt zu machen und ihr Leid auf die bloße Zahl zu reduzieren, hat sich Friedländer sicher nicht als Erster gestellt. Aber ihm gelingt - ohne Visualisierungs- und anschmiegsame Narrationstechniken - eine vielstimmige, vielgesichtige und vielschichtige Dokumentation, die Täter und Opfer plastisch in Erscheinung treten lässt und ihre - oft widersprüchliche - Geschichte miteinander verflicht.
Als subjektive Quellen dienen ihm insbesondere die Tagebücher der Holocaust-Opfer und der Überlebenden, die Auskunft geben über die Interaktion zwischen Tätern und Opfern. Statt sie aber nur als historische Belegstelle heranzuziehen, erschließt Friedländer sie in Form eines Gefühlstableaus: "Meine Chronik", notiert Hermann Kruk aus Wilna am 23. Juni 1941 programmatisch, "muss sehen, muss hören und muss zum Spiegel und zum Gewissen der großen Katastrophen und der schweren Zeiten werden." So sehr sich Friedländer auch bemüht, jedem Land seine Stimme, jeder Überlieferung ihr Gesicht zu geben, räumt auch er ein, dass die Auflistung gerade der antijüdischen Kampagne in den besetzten Ostgebieten "etwas zutiefst Peinigendes und doch zugleich Betäubendes" an sich hat. Rund 1.300 Seiten umfasst das Werk insgesamt, und es ist, bei aller Brillanz der Anlage und des Stils, streckenweise kaum auszuhalten. Was aber bleibt, ist das "anfängliche Gefühl der Fassungslosigkeit", das er, so schreibt Friedländer einleitend, in all den Jahren der Recherche nicht habe "nicht völlig beseitigen und einhegen" wollen.
Ob die Entscheidung, ihm den Friedenspreis zuzuerkennen, nun der Versuch ist, die Paulskirche vom "Kitsch" der dort gehaltenen Rede Martin Walsers "reinzuwaschen", wie der Historikerkollege Hanno Loewy im Sommer in der Jüdischen Allgemeinen böse spekulierte, muss dahingestellt bleiben. Doch die von Loewy kritisierte Begründung der Jury, Friedländer habe in besonderer Weise "den zu Asche verbrannten Menschen Klage und Schrei gestattet, Gedächtnis und Name geschenkt", ist in der Tat bemerkenswert. Genau so, nämlich mit einer als "mythische Erinnerung" herabgewürdigten Geschichtsschreibung, hatte schon Broszat einen Historiker erledigen wollen, der der behaupteten Neutralität der Zunft misstraute und ihre "falschen Normalisierungen" (Friedländer) bekämpfte.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.