Ein Leckerli hier, eine Drohung da

Corona Anreize für Skeptiker, Strafen für Schwänzer: Die Virusbekämpfung wird immer schräger
Ausgabe 27/2021
Registrierungsplätze im Müncher Impfzentrum
Registrierungsplätze im Müncher Impfzentrum

Foto: kolbert-press/IMAGO

In der Marktwirtschaft, lehrt die liberale Volkswirtschaft, bestimmt sich der Wert der Ware nach Angebot und Nachfrage. Das berühmte Glas Wasser in der Wüste muss dann herhalten, um den profitgetriebenen Spekulationscharakter des Kapitalismus zu verschleiern, die Kundschaft wird zum Protagonisten der Gier.

Mit dem Corona-Impfstoff verhält es sich ein bisschen komplizierter, weil staatliche Intervention Preise und Verteilung mitbestimmt. Auf der Ebene der Nachfrage schlägt aber momentan das liberale Diktum durch: In den Monaten der Knappheit ging das Interesse der Impfwilligen durch die Decke, jetzt, wo eine gewisse Marktsättigung eintritt, flaut es ab. Die Impfung verliert ihren exklusiven Charakter, und wenn sowieso alle shoppen und reisen dürfen, weshalb dann noch dieser Pieks mit den unliebsamen Nebenwirkungen?

Die aktuelle Entspannung der Pandemiesituation, vorgeführt in unverantwortlich überfüllten Fußballstadien während der EM oder durch zurückgenommene Schutzmaßnahmen wie vom britischen Premierminister Boris Johnson, verbreitet trügerische Sicherheit, die kritisch kommentiert wird, nicht zuletzt vom lange abgetauchten Innenminister Horst Seehofer (CSU).

Äußerst allergisch reagiert die Politik derzeit aber vor allem auf sogenannte Impf-Schwänzer, Menschen, die ihren zweiten Impftermin verpassen und so den wertvollen Stoff „verschwenden“ – als ob wir nicht ohnehin in einer Verschwendungsgesellschaft lebten. Eine vorzeitige epidemische Rückkehr des Virus in Deutschland käme vor den Bundestagswahlen immens ungelegen. Deshalb wird jetzt einerseits mit Drohgebärden in Form von Strafzahlungen gegenüber Impfsäumigen hantiert und andererseits mit „Leckerli“, die die noch nicht Geimpften aktivieren sollen. Gemeint sind handfeste Vorteile, wie sie beispielsweise der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, vorgeschlagen hat: Für vollständig Geimpfte sollen grundsätzlich alle Coronamaßnahmen wegfallen. Und Sachsen laboriert an einem Bonussystem, etwa Rabatten für Dienstleistungen.

Dahinter scheint auf, was die Ständige Impfkommission zum Schutz von Kindern und Jugendlichen für selbstverständlich hält, weil diese von der Impfung wenig profitieren. Warum sollen sich Bürger:innen um einer fiktiven Herdenimmunität willen impfen lassen? Ist diese kollektive Bringschuld zumutbar, vorausgesetzt, dass es eine Impfpflicht nicht gibt? Andererseits: Ist das Gros der Menschen nicht vernünftig genug, als dass ihnen wie dem pawlowschen Hund eine Wurst hingehalten werden muss, um solidarisch zu jaulen? Die widersprüchlichen Signale von Lockerungsangeboten und Warnleuchten sind jedenfalls nicht geeignet, ein nüchternes Bild der Lage zu vermitteln.

Die hochansteckende Delta-Variante breitet sich nun auch in Deutschland immer schneller aus, und aus Israel, dem Musterland bei der Corona-Bekämpfung, kommen schlechte Nachrichten. Seit Anfang Juni ist die Wirksamkeit der Impfung dort von über 95 auf 64 Prozent gesunken. Obwohl über die Hälfte der Bevölkerung vollständig geimpft ist, steigen nicht nur die Infektionszahlen, sondern auch die symptomatischen, wenn auch weniger schwer verlaufenden Covid-19-Erkrankungen. Derzeit lebt es sich hierzulande mit dem Virus außerhalb der Intensivstationen ganz gut. Wir wissen nicht, wie lange. Doch die Kinder sollten kein weiteres Schuljahr vor dem heimischen Bildschirm absitzen müssen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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