Schon länger lag die Frage in der Luft. Ausgesprochen wurde sie dann – im Scheinwerferlicht der Kameras – am 19. März auf der Bundespressekonferenz. „Wäre Karl Lauterbach nicht der bessere Gesundheitsminister?“, forderte ein Kollege Jens Spahn, dem der SPD-Mann an diesem Tag assistierte, heraus. Beide versichern, sich „ewig zu kennen“ und immer „gut zusammengearbeitet“ zu haben. Aber wer weiß, setzt Spahn dann doch etwas gewurmt hinzu, „vielleicht wird er ja noch mal Gesundheitsminister.“ Nach der nächsten Bundestagswahl.
Assistenz ist allerdings der falsche Begriff für das, was Lauterbach ablieferte. Er redete nicht nur Spahn, sondern auch den Vize-Chef des Robert-Koch-Instituts, Lars Schaade, an die Wand mit seinem zerquetscht aus dem Mund fließenden „geschätzten Analysen“ (Spahn). Grundiert waren sie von dem für Lauterbach typischen Alarmismus, der im Duktus von Wasserstandsmeldungen daherkommt: Der Infektionspegel steuere durch den hohen Selektionsdruck des Virus seinem Höchststand entgegen, „wir befinden uns in der gefährlichsten Phase“.
Mit der Pandemie, vor der er früh warnte, hat sich das einstige gesundheitspolitische Gesicht der SPD von den Hinterbänken wieder ins politische Schaufenster gearbeitet. Kein Beratungsgremium, das an seinen fleißig via Twitter verbreiteten Expertisen vorbeikommt, kaum eine Talkrunde, in der er nicht widerspricht, kein Medium, das nicht fast täglich eine L-Meldung unters Volk bringt. Das beschert Anerkennung, aber auch ein Heer von Feinden, die vor Morddrohungen gegen den Politiker nicht zurückschrecken.
Dabei wies der Pfeil des 1963 in Düren geborenen Sohnes eines Vorarbeiters, dem weder die Wissenschafts- noch die Politikerkarriere in die Wiege gelegt worden waren, steil nach unten. Zuerst zerschlugen ihm die schwarz-gelben Koalitionen seine Ministeraspirationen. Als die SPD endlich in die Regierung eintrat, zogen zwei Unionsleute an ihm vorbei ins Gesundheitsressort in der Berliner Friedrichstraße, zuerst Hermann Gröhe, dann Jens Spahn. Mit letzterem, rühmte sich Lauterbach einmal, verantworte er den gesundheitspolitischen Teil des Koalitionsvertrags. Auch sein Versuch, im Duo mit der Umweltpolitikerin Nina Scheer als Parteivorsitzende der SPD zu kandidieren, für den er sogar sein Erkennungszeichen, die Fliege, abgelegt hatte, scheiterte abgeschlagen auf dem vierten Platz.
Sein Selbstbewusstsein hat das nicht erschüttert. Vielmehr hob die Pandemie die Prävention, oft thematisiert von Lauterbach, auf die politische Agenda. Es ist eines seiner Lieblingsthemen, der Asket lebt im ständigen Vermeidungsmodus: Sein „bitte ohne Salz“ im Restaurant ist Legende, Fleisch verschmäht er ohnehin, und ginge es nach Lauterbach, gäbe es längst eine Zuckersteuer und die Deutschen würden auf entfettete Lebensmittel gesetzt. In Hintergrundgesprächen wurden Journalist:innen immer mal wieder mit dem, ja, ermunternden Hinweis versorgt, dass jeder zweite Deutsche einmal im Leben an Krebs erkrankt. Der Vorstoß zur Freigabe der Sterbehilfe, den Lauterbach überfraktionell auf den Weg gebracht hat, könnte dem Wunsch entsprungen sein, auch allen Eventualitäten am Lebensende vorzubeugen.
Die emotionalen Zonen des Politischen versucht der Politiker mit Zahlen und Fakten, die er nächtens „frisst“, wie er sagt, abzukühlen. Damit kennt sich der gelernte Arzt und Gesundheitsökonom, der unter anderem in Aachen und in Harvard studiert und zehn Jahre lang in den USA gelebt hat, aus. Den Aufstieg zum Professor und Direktor des Kölner Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie hat sich Lauterbach hart erarbeitet. Die Spuren der Herkunftsklasse flossen in sein Programm – Abschaffung der Zweiklassenmedizin mittels Bürgerversicherung –, imprägnieren unterschwellig jedoch auch den Habitus. Der Spiegel machte eine ganze Story aus Lauterbachs Neigung, Bedeutung aus der Nähe des Personals zu ziehen, das er berät.
Als Einflüsterer der Macht ist er nicht gefeit vor Opportunismus. Lauterbach deckte die unpopulären Gesundheitsreformen Ulla Schmidts (SPD), die ihn in die Politik holte, und verleugnete auch schon mal die Bürgerversicherung, als es seiner Partei genehm erschien.
Mit Karl Lauterbach als Gesundheitsminister wäre die Pandemie wohl anders verlaufen. Zumindest hätte er den „Instrumentenkasten“, von dem die Kanzlerin gerne spricht, anders munitioniert. Die Impfpflicht, die er bei den Masern unbedingt befürwortete, wäre womöglich ausgeweitet, Zusammenkünfte in der Wohnung, wie von ihm vorgeschlagen, behördlich überprüft worden, Ausgehverbote längst Realität. Hartes Durchgreifen à la Söder. Nur bei den Schulen mäanderte Lauterbach zwischen Shutdown und Lockerung.
Dass aus Menschen wie ihm keine Helden zu machen sind, ist Lauterbach bewusst. Wären die Präventionsmediziner darin erfolgreich, Dinge abzuwenden, würde es heißen, dass es eh nicht so schlimm gekommen wäre, sagte er im Mai bei Anne Will. Wenn man aber scheitere, „dann sind wir erst recht die Buhmänner“. Karl Lauterbach scheint sich in diesem Rollensegment aber gar nicht so unwohl zu fühlen, besonders, wenn ihn, wie oft, die Realität bestätigt.
Würde er tatsächlich noch einmal Minister, würde wohl der Gesundheitsökonom in ihm durchbrechen. In der Flüchtlingskrise befürwortete er den Zuzug von Migranten nicht aus humanitären, sondern aus ökonomischen Gründen, weil sie Geld in die Sozialkassen spülen. Nach Bundestagswahl und dem anstehenden Kassensturz könnte er als Überbringer schlechter Nachrichten also durchaus reüssieren. Und vielleicht treibt die blanke Not dann doch noch zur Bürgerversicherung.
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