Ein Ort zum Ankommen

Robinson I Der Berliner Sonnenhof ist eines von sechs Kinderhospizen in Deutschland, die schwerkranken Kindern und ihren Eltern einen Ruhepol bieten

Im großen Gemeinschaftsraum dreht sich noch gemächlich das Adventsrad. Die weihnachtliche Spannung ist spürbar winterlicher Erschlaffung gewichen. Auf einer Matratze döst die achtjährige Linda, das Blondhaar heute zu einem aufmüpfigen Haarschwanz hochgesteckt. Sie hat eine unruhige Nacht hinter sich und träumt sich in den diesigen Wintertag hinein. Daneben ruht sich der vierjährige Alexander, den alle Aki nennen, von den Strapazen des Vormittags aus und lässt sich von Sarah, der Praktikantin, beschmusen. Der gleichaltrige Timmy ist dagegen richtig aktiv und kräht, als er im Hintergrund den Gemüsemixer hört. "Jetzt weiß er, dass es gleich was zu essen gibt", erklärt mir der Koch, der auch Timmys Vater ist und in der offenen Küche vor sich hin schmurgelt.

Vor einer halben Stunde noch haben er und das übrige Personal mit vielen anderen in der Republik der Opfer der Tsunami-Katastrophe gedacht, doch jetzt ist der Raum wieder erfüllt von hin- und her geworfenen Worten und dem leisen Klappern der Teller, die Frau Mielke, die Hauswirtschafterin, auf den Tisch stellt. Während Schwester Ulrike und Sarah die Nahrungssonden für die drei Kinder vorbereiten, schaut Schwester Dana nach Fred, von dem heute nichts zu sehen ist, weil er lieber auf seinem Zimmer bleibt und Cassetten hört. Dann sitzt Dana eine Weile bei Frau L., die erst gestern aufgenommen wurde und sehr unruhig ist. Gleich werden wir uns alle um den runden Tisch zum gemeinsamen Mittagessen versammeln. Heute hat sich Herr Griep, dessen Kochkünste gerühmt werden, ein bisschen mit dem Salz vertan, und jemand blödelt: "Da hat sich wohl der Koch verliebt!" Alles lacht, und Timmy schmeißt begeistert die Arme in die Luft.

Ein ganz normaler Tag im Berliner Kinderhospiz Sonnenhof. Und doch ist die an das geschäftige Treiben einer Großfamilie erinnernde Normalität auch trügerisch. Denn die Kinder und jungen Erwachsenen, die hier leben, sind schwer krank; so krank, dass keine Medizin sie mehr heilen kann und kein Krankenhaus sie haben will. Die frühgeborene, mehrfachbehinderte Linda zum Beispiel hat schon einige Einrichtungen hinter sich und lebt jetzt seit einem Jahr im Sonnenhof. Sie kann nicht gehen und sprechen und muss, wie fast alle Kinder hier, gewindelt und mit einer Magensonde ernährt werden. Frau L. kam mit einem Hirntumor in der präfinalen Phase ins Hospiz. Der kleine Aki leidet an ALD in fortgeschrittenem Stadium. ALD (Adrenoleukodystrophie) ist eine genetisch bedingte Störung des Fettstoffwechsels, die sich zunächst nur in Reaktionsverlangsamungen niederschlägt, dann jedoch das gesamte Nervensystem angreift, zu Seh- und Gehbehinderungen bis zur völligen Bettlägerigkeit führt und bei Kindern sehr oft tödlich verläuft.

Bei Timmy wiederum, der bei seinen Eltern lebt und nur zweimal wöchentlich den Sonnenhof besucht, wurde zunächst eine mitochondriale Myopathie diagnostiziert, eine ebenfalls erblich bedingte Funktionsstörung, die zahlreiche Organe in Mitleidenschaft zieht. Fälschlicherweise, wie sich dann herausstellte. Bis heute wissen die Eltern nicht genau, was ihrem Kind fehlt, dennoch hat bei Timmy, der bis vor kurzem weder sitzen noch normal essen konnte, die intensive therapeutische Versorgung angeschlagen. Die Hälfte der heutigen Mahlzeit hat er sitzend und mit sichtlichem Appetit mit dem Löffel verspeist.


Doch Timmy ist im Sonnenhof die Ausnahme. Wer hierher kommt, gilt in der Medizin als "austherapiert", oder aber die Eltern möchten ihren Kindern keine weiteren belastenden Behandlungen mehr zumuten. In Berlin und Brandenburg, dem Einzugsgebiet des Sonnenhofs, sterben rund 500 Kinder im Jahr an Krebs, schweren Stoffwechsel- oder Erbkrankheiten, schätzen Fachleute. Für die Lebensstrecke, die noch vor ihnen liegt, sind die Krankenhäuser nicht ausgerichtet, die Kinder werden hin- und hergeschoben. Doch diese Strecke kann, gerade weil Krankheitsverläufe bei Kindern nicht vorhersehbar sind, kürzer oder länger sein; so lang, dass die Last für die Eltern und Geschwisterkinder, selbst wenn Einzelfallhelfer unterstützend einspringen, zu schwer wird. "Die Klinik", sagt Schwester Ulrike, "erlebt die Kinder ja nur am Anfang und am Ende der Krankheit." Der Sonnenhof springt auch ein, wenn die Eltern einmal eine Ruhepause brauchen für sich selbst und die gesunden Kinder. Und er bietet manchmal ein letztes Zuhause, wo die "Gäste" genannten kleinen Patienten sich wohl fühlen und bis zum Ende bleiben können. Am besten ist es aber, wenn die Kinder zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung sterben. Wenn Eltern nach dem Tod eines Kindes dann Trost oder Rat suchen, ist der Sonnenhof wieder da.

Für das Wohlfühlen sorgt schon das lichtdurchströmte, rundum verglaste und großzügig angelegte Gebäude. Die beiden durch einen Verbindungstrakt zusammengefassten Gründerzeitvillen liegen in einer ruhigen Seitenstraße in Berlin-Niederschönhausen und heben sich von den benachbarten Wohnhäusern durch ein leuchtendes Gelb ab, das an sonnigen Tagen weithin den Blick auf sich zieht. Im Erdgeschoss liegt das Verwaltungsgebäude, und rechts führt eine liebevoll mit Spielzeugtieren geschmückte Treppe in den abgeschlossenen, zweistöckigen Hospizbereich. Eine Gedenktafel an der Fassade erinnert an die Vergangenheit des Hauses: 1942 wurden von hier aus 150 Kinder und Säuglinge in die NS-Vernichtungslager verschleppt und ermordet. Zu DDR-Zeiten war dort das Jüdische Altersheim untergebracht. Nach der Wende stand das Gebäude einige Jahre leer, bis die aus der Kinderhilfe für krebskranke Kinder hervorgegangene Björn-Schulz-Stiftung es von der Jüdischen Gemeinde günstig anmieten und für ihre Zwecke umbauen konnte. Im Dezember 2002 wurde der Sonnenhof schließlich eröffnet. Es ist heute eines von nur sechs Kinderhospizen in der Bundesrepublik.

So leicht und spielerisch wie es in der Eingangsszene scheint, ist das, was die zehn bis zwölf im Vierschichtdienst arbeitenden Schwestern und Pfleger im Sonnenhof tagtäglich bewegen, allerdings nicht. Am Vormittag habe ich Schwester Ulrike bei ihrer Arbeit begleitet. "Im Unterschied zur Klinik", erzählt sie mir, "richten wir den Tagesablauf so weit wie möglich an den Bedürfnissen unserer Gäste aus." Wer lang schlafen möchte, soll das tun können, es gibt keine vorgeschriebenen Weck- oder Essenszeiten. Und auch wenn die Kinder ihre Mahlzeiten oft nur in püriertem Zustand und per Sonde zu sich nehmen können, erfüllt der Koch gerne ihre Wünsche.

Wir wandern durch den ersten Stock des Hospizes, wo ein Teil der sechs derzeit genutzten Zimmer liegt, von denen heute vier belegt sind. Das Haus verfügt zwar über eine Kapazität von zwölf Zimmern, doch um sie nutzen zu können, müsste das Personal erheblich aufgestockt werden. Wie schon im Gemeinschaftsraum hängen auch hier überall Kinderzeichnungen an den Wänden, hier und da liegt Spielzeug herum, das die hier wohnenden oder besuchenden Kinder in Gebrauch hatten. Denn im Hospiz werden nicht nur kranke Gäste aufgenommen, sondern auch ihre Eltern und die gesunden Geschwisterkinder können sich in einem der im Obergeschoss gelegenen freundlichen und geschmackvoll eingerichteten Appartements niederlassen. Dort residieren derzeit auch Akis Eltern.

Aki selbst bewohnt ein helles, freundliches Eckzimmer. Jeder Raum im Hospiz ist individuell geschnitten, mit praktischen Einbauschränken ausgestattet und kann ganz nach den Bedürfnissen der Gäste verändert werden. Einzig die pflegerisch notwendigen höhenverstellbaren Betten, die aber gar nicht aussehen wie im Krankenhaus, sind überall gleich. Auf Aki wartet das morgendliche Baderitual. Doch bevor er in die Wanne, über der ein großer blauer Plastikdelfin in einem Netz schwingt, gehoben werden kann, muss ihn Schwester Ulrike ausziehen, was sich als ganz schön kompliziert erweist, denn Aki hat einen Arm gebrochen. Die vielen Medikamente haben seine Knochen porös gemacht und sind nun extrem bruchgefährdet. Vorsichtig nimmt die Schwester die Schiene ab, entkleidet Aki Schicht um Schicht. Dann wird er in einen luxuriösen Spezialwagen gesetzt und ins Bad gerollt. Unter dem warmen Wasserstrahl blüht der kleine Kerl auf und wird richtig munter.

Wieder zurück in seinem Zimmer, geht die Prozedur von vorne los, nur umgekehrt und noch zeitaufwändiger. Aki muss abgetrocknet und sorgfältig eingecremt werden, damit er nicht wund liegt. Dann ist die Magensonde zu säubern. Bevor er für den Tag angekleidet werden kann, muss die Schwester erneut die Armschiene mit dem Verband anlegen. Keine einfache Sache, denn das Material ist widerspenstig, und Aki krampft zwischendurch, sodass das Unternehmen so lange unterbrochen werden muss, bis der spastische Krampf vorbei ist. Akis Zwillingsbruder und sein jüngerer Bruder, berichtet Ulrike in diesen Pausen, liegen derzeit auf der Kinderstation für Knochenmarktransplantationen im Berliner Virchow-Klinikum. Sie sind später als Aki an ALD erkrankt, und die Ärzte hoffen, die Krankheit durch eine Transplantation aufhalten zu können. Jeden Morgen eilen die Eltern in die Klinik zu den Kindern und bleiben den ganzen Tag. Abends kommen sie dann zurück in den Sonnenhof, um sich um Aki zu kümmern.

Als Aki und sein Zwilling geboren wurde, waren beide ganz normale Säuglinge. Die Eltern ahnten nichts von der - immer nur bei Jungen auftretenden - Erbkrankheit. Dann machten sich erste Symptome bemerkbar, bei Aki zuerst und spät erkannt - da war sein jüngerer Bruder schon auf der Welt. Heute benötigt Aki Rundumbetreuung, er kann nicht sprechen und laufen und auch nicht selbstständig essen, weil die Schluckreflexe nicht mehr richtig funktionieren und die Gefahr besteht, dass er erstickt. Das Schwierigste an der Pflege sei deshalb, sagen Schwestern und Pfleger übereinstimmend, die Signale der betreuten Gäste interpretieren zu lernen - doch trotz aller Aufmerksamkeit käme es immer mal wieder zu Missverständnissen. Da die Ärzte von außen in den Sonnenhof kommen, entscheidet das Pflegepersonal, wann ärztlicher Beistand nötig ist. "Hier lernt man wieder, den Verstand zu benutzen", sagt Ulrike so nebenher. Auf dieses Motiv werden wir später noch einmal zurückkommen.

Als Aki seinen letzten Anfall überstanden hat, kann das Anzieh- und Zahnputzritual endlich beendet werden. Am Schluss wird er noch inhaliert, um ihm das Atmen zu erleichtern. Dann geht´s mit Ulrike in den "Snoezelen-Raum" (aus dem Niederländischen für Schmusen), ein ganz spezieller Ort im Hospiz, der mit einem großen Wasserbett, Sphärenmusik und einem blauen Firmament zum Entspannen lockt und die Sinne der Kinder anspricht. "Normalerweise", verteidigt sich Ulrike, "haben wir nur wenig Zeit, um mit den Kindern hier zu liegen." Aber heute seien sie nicht voll belegt und personell gut bestückt - die Schwestern, die Praktikantin, der Zivi René und nachmittags noch Bärbel, die ehrenamtlich hilft -, dass das gut möglich sei. Ulrike wirkt, als könnte sie auch ein bisschen Ruhe brauchen. Eine Pflegeschicht ist harte Arbeit.


Während Ulrike "schmusen" geht, setze ich mich in den lichten Wintergarten und genieße die Aussicht auf den winterlich verzauberten Garten. Dort liegt ein Teich, an dessen Ufer kleine Gedenksteine an die verstorbenen Kinder erinnern. Seit Bestehen des Hospizes sind hier acht Kinder gestorben. "Jedes Sterben hat etwas Besonderes", hatte Frauke Frodl, die engagierte Pressesprecherin der Stiftung, bei meiner ersten Besichtigung des Abschiedsraumes bemerkt.

Am anderen Ende des Gartens gibt es einen kleinen Streichelzoo, der von "M.U.T.", einem ehrenamtlichen Jugendprojekt, versorgt wird. Dort warten die beiden Esel Lotti und Darwin auf Streicheleinheiten. Um diese Zeit ist Schulschluss, und zwei Kinder flanieren über den schmalen Weg, bleiben bei den Tieren stehen. Wenn sie Lust haben, können sie sogar kostenlos das schöne Kinderschwimmbad des Hauses, in dem die Hospizgäste therapiert werden oder sich entspannen, mitnutzen. Das ist gewollt, denn so wird das Hospiz in die normale Pankower Lebenswelt integriert. Umgekehrt lernen die Kinder aus der Umgebung, dass es auch kranke Altersgenossen gibt, die vielleicht bald sterben müssen.

Ein solch aufwändiges Haus zu unterhalten, ist ein teures Unternehmen, zumal wenn es weder auf staatliche noch kommunale Mittel zurückgreifen kann und einzig auf Spenden und die Kassenzuschüsse angewiesen ist. 11,26 Euro müssen die Eltern pro Tag und Kind selbst aufbringen - wenn sie es finanziell können. Sonst springt auch hier die Stiftung ein. 600.000 Euro sind jährlich nötig, um das Haus voll zu belegen. Der gelernte Ökonom Jürgen Schulz weiß davon ein Lied zu singen. "Für Tiere", sagt er (und Darwin lässt von draußen ein durchdringendes Iaah hören), werde "vier Mal soviel Geld gespendet als für Kinder. Und gespendet wird nach Krankheitsbildern." Wie sagte doch Ulrike? Ein Down Syndrom kenne jeder, und von diesen Kindern komme viel zurück. Es gebe aber Krankheiten, die erschreckender wirken, und Außenstehende sähen sich da viel weniger veranlasst zu helfen.

Jürgen Schulz reklamiert aber auch gesetzgeberischen Handlungsbedarf. "Die Hospizparagraphen sind alle auf Erwachsenenhospize ausgelegt." Sie berücksichtigten weder bestimmte, vor allem Kinder betreffende Krankheitsbilder und den damit verbundenen erhöhten Pflegeaufwand, noch die Tatsache, dass die kranken Kinder Eltern und Geschwister haben, die ebenfalls entlastet werden müssen. Das ist aber in den Kurzzeitpflegesätzen nicht vorgesehen. Dabei organisiert die Stiftung noch zusätzlich die Ausbildung von ehrenamtlichen Familienhelfern, die betroffene Familien im Bedarfsfall ambulant unterstützen. 132 Frauen und 20 Männer betreuen derzeit 138 Familien; hinzu kommen nochmals 20 Ehrenamtliche, die im Hospizbereich tätig sind. Für die professionellen ambulanten sozialen Dienste, die sich über die Pflegeversicherung oder andere Träger finanzieren, eine echte Konkurrenz - obwohl Ehrenamtliche offiziell nur "ergänzend" tätig sein sollen. Schulz sieht das skeptischer. Er glaubt, dass Ehrenamtliche immer stärker die sozialen Dienste ersetzen werden, weil immer weniger Mittel zur Verfügung stehen. "Vieles könnte ohne Ehrenamtliche gar nicht mehr gemacht werden."


Von den finanziellen und bürokratischen Stolpersteinen, die Eltern eines behinderten und kranken Kindes zu überwinden haben, weiß auch das Ehepaar Fahldieck zu berichten. Die Eltern des 18-jährigen Fred, den ich bei meinem ersten Besuch nicht kennengelernt habe, treffe ich gut einen Monat später im Gemeinschaftsraum des Hospizes. Normalerweise besuchen sie Fred, der ihr einziges Kind ist und seit September vergangenen Jahres im Sonnenhof lebt, getrennt, damit sie möglichst viel Zeit mit ihm verbringen können. Jetzt sitzen wir bei Kaffee und Kuchen, den jemand vorbei gebracht hat, am großen Tisch, neben uns übt Praktikantin Sarah die ersten Schritte mit dem kleinen Lucas, der mit seinem schwerkranken Bruder im Sonnenhof "auf Urlaub" ist. Auf der Couch lässt sich Linda von einer Helferin hätscheln. Die junge Frau L., erfahre ich später, ist wenige Tage nach meinem letzten Besuch gestorben.

Wie Linda ist auch Fred zu früh auf die Welt gekommen, 1986, in der 28. Schwangerschaftswoche. Damals war die Frühgeborenenmedizin noch nicht so entwickelt, die Sauerstoffgaben, mit denen der Junge beatmet wurde, konnten nicht genau kontrolliert werden. Das führte zu einer Netzhautablösung und zur Erblindung des Jungen. Dazu kamen die Folgen einer Hirnhautentzündung. Fred blieb in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung zurück, lernte nie laufen. "Am Anfang", erinnert sich Herr Fahldieck, "hieß es, Fred erlebt Weihnachten nicht. Dann sagten sie uns, er würde nie etwas machen können. Doch dann begann Fred in seiner Schaukel zu wippen, und eine Logopädin schaffte es sogar, dass er sich sprachlich verständlich machen konnte." Die ersten vier Jahre lebte das Kind zuhause, dann besuchte Fred eine Tagesschule für Körper- und Geistigbehinderte. "Wir wuchsen einfach so in die Situation hinein", ergänzt Freds Mutter, die selbst Reha-Pädagogin ist, "wir hatten uns ganz gut eingerichtet."

1999 änderte sich das schlagartig. Fred hatte Wirbelsäulenprobleme, das Rückgrat sollte durch eine OP versteift werden. Eigentlich keine große Angelegenheit, doch es kam zu einem Narkosezwischenfall, der zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand führte und eine irreversible Hirnschädigung nach sich zog. Fred musste eine halbe Stunde reanimiert werden, bis er wieder zurückkehrte. Doch sein Zustand verschlechterte sich massiv. Ein Jahr verbrachte der 13-Jährige zunächst im Klinikum Buch, dann kam er in eine Spastikerfördergruppe, wo ihn die Eltern aber nicht gut versorgt sahen. Einen glücklichen Zufall nennen sie es heute, dass sie vom Sonnenhof erfuhren und Fred schnell Aufnahme fand.

Hier erlitten die Eltern dann den "Kümmernisschock", wie Freds Vater es ausdrückt. Auf meine Nachfrage erklärt er, im Sonnenhof kümmerte man sich so viel um das Kind, dass sie zum ersten Mal seit Jahren wieder zum Durchatmen und Leben kämen. Es hat gedauert, bis der selbstständige Finanzberater beruflich wieder aufgeschlossen hat. Und es gebe ja nicht nur das Kind, sondern auch Eltern, Geschwister und Freunde, die ein bisschen Aufmerksamkeit forderten. "Wenn wir das Kind zuhause hätten", sagt die zurückhaltend wirkende Frau Fahldieck, "dann wäre das immer wie im Ausnahmezustand." Jetzt wissen die Eltern ihren Sohn im Sonnenhof nicht nur gut versorgt, sondern sie kommen auch gerne zu Besuch: "Ich komme hier nicht in eine Institution", umschreibt es Freds Mutter, "sondern wie zu Bekannten, die einen gerne sehen."

Dabei bekommen die Fahldiecks vom regen Gemeinschaftsleben im Sonnenhof - zum Beispiel dem obligatorischen Familienfreitagnachmittag - nicht so viel mit, und sie genießen es auch, dass sie sich, wenn ihnen danach ist, mit Fred zurückziehen können. Denn sie wissen genau, dass Freds derzeit relativ stabiler Zustand, der es ihm erlaubt, demnächst sogar wieder "passiv" die Schule zu besuchen, trügerisch ist und sich schnell wieder ändern kann. "Ich hätte mir nie vorstellen können", sagt die Mutter, "dass Fred so früh nicht mehr bei uns sein würde. Aber mit 18 hätte der Abnabelungsprozess ja ohnehin begonnen."

Beim Vater spürt man indessen die verzweifelte Wut, wenn die Rede auf die Operation und den Narkosezwischenfall kommt; ihm fällt es offenbar viel schwerer, sich mit der Situation abzufinden. Noch immer führt er - mittlerweile in zweiter Instanz - eine Schadensersatzklage gegen die operierende Klinik und ärgert sich über "intellektuelle Juristen" und deren "akademisches Gedöns". Aus seiner Sicht liegt der Fehler klar auf der Hand, und er möchte, dass das geforderte Schmerzensgeld seinem Sohn zugute kommt. Seit Fred vergangenes Jahr volljährig wurde, haben die Eltern unendliche bürokratische Hürden zu nehmen, damit sie ihn weiter betreuen dürfen: "Beantragen Sie mal einen Betreuungsschein!", erregt sich Herr Fahldieck. "Wissen Sie, die Gesetze, die sind eben nicht nach den Bedürfnissen der Betroffenen gemacht." Auch die finanzielle Seite ist schwierig. An den Sonnenhof gehen die 46 Euro, die Fred als Grundsicherung vom Jugendamt erhält. Doch die Eltern würden ihrem Sohn gerne eine möglichst gute therapeutische Versorgung zukommen lassen, und das stößt an Grenzen.


Die Zufriedenheit der Fahldiecks und all derer, die den Sonnenhof in Anspruch nehmen oder zeitweise dort wohnen, gründet auf dem ungewöhnlichem Engagement und der Energie des sehr jungen Teams. Ich erwische Schwester Ulrike und Schwester Dana noch kurz nach Schichtwechsel, und verwickle sie, mit schlechtem Gewissen, ihnen nun auch noch einen Teil ihres Feierabends zu stehlen, in ein längeres Gespräch.

Für die aus der Schmerzmedizin kommende Ulrike war der Wechsel in den Sonnenhof eine ebenso bewusste Entscheidung wie für Dana, die ursprünglich auf einer Kinderkrebsstation an der Universitätsklinik Regensburg gearbeitet hat. Beide wollten nicht weiter auf einer "normalen" Station bleiben. "Die Grätsche", erklärt Ulrike, "zwischen den zu heilenden und den unheilbaren Patienten" ist einfach zu groß" - insbesondere für Ärzte, für die Tod immer auch Scheitern bedeutet und die verständlicherweise alles und manchmal auch Sinnloses unternehmen, um einen Patienten zu retten.

Aber auch für sie als Schwestern sei der Spagat unerträglich gewesen: Den Anweisungen der Klinik und der Ärzte untergeordnet, hätten sie als Pflegende doch am meisten mit den Patienten und ihren Angehörigen zu tun gehabt. "Für mich war die ›große Pflege‹, die Apparatemedizin, nicht mehr verantwortbar", sagt Ulrike. Und Dana erzählt von ihrem Dilemma, wenn sie beispielsweise Geschwisterkindern verbieten sollte, auf die Intensivstation zu kommen, wenn deren Bruder oder Schwester starb, nur, weil das eben so Vorschrift war. "Ich habe dann ganz bewusst dagegen verstoßen", setzt Dana hinzu und schüttelt energisch ihre rote Mähne. Diese von Ulrike so genannte "Dissonanz" jedenfalls, die automatisch aus der Struktur der Klinikhierarchie erwächst, war für beide nicht mehr hinnehmbar.

Da im Hospiz Ärzte und Spezialisten nur extern herangezogen werden, entfallen auch viele Konflikte, die aus dem engen Nebeneinander von Ärzten und Pflegepersonal resultieren. Dana schätzt an ihrer derzeitigen Arbeit besonders, dass es "noch keine Konzepte" gibt, dass man aufgefordert ist, sie mitzuentwickeln und das Projekt genügend Gelegenheit zur Entfaltung bietet. Ulrike wiederum schätzt das gleichberechtigte Verhältnis von Pflegenden und Gästen und den Teamgeist der Kolleginnen und Kollegen, die einen an "traurigen Tagen auch mal auffangen".

Während Ulrike gelernt hat "abzuschalten", wenn sie das Hospiz verlässt, räumt Dana ein, dass sie schon mal öfters die Geschichten "mit nach Hause nimmt". Insofern ist das Team auch wichtig, um "Trauerarbeit" zu leisten, nimmt es, trotz aller professionellen Distanz, Schwestern und Pfleger doch immer wieder mit, wenn es einem Kind schlecht geht oder es gar stirbt. Viele Bekannte und selbst Kollegen, wundert sich Ulrike, "erschrecken manchmal, wenn sie hören, wo ich arbeite." Das sei doch furchtbar traurig, sagen sie dann und fragen, wie sie das aushalte. Es sei dann schwer zu erklären, "dass es die Ruhe ist bei einer eigentlich unruhigen Arbeit", die den Sonnenhof so attraktiv mache. Die beiden von ihren früheren Tätigkeiten sichtlich desillusionierten Frauen scheinen "angekommen" zu sein - obwohl sie dafür noch viel zu jung sind.

Als ich an diesem ungewöhnlich warmen, den Frühling herbeiahnenden Januarabend den Sonnenhof verlasse, dreht sich noch immer das Adventsrad. Auf dem Sofa sitzt Bärbel mit einer schlafenden Linda auf dem Schoß. Gerade kommt Aki mit einem anderen freiwilligen Helfer von einem Spaziergang zurück. Beim nächsten Mal wird Fred mir zulächeln und ein bisschen winken, wenn ich gehe.


Der Begriff Hospiz ...

... bedeutet Herberge. Die christlich motivierte Hospizbewegung stammt aus dem angelsächsischen Raum. Das erste moderne Hospiz, das unheilbar Kranke aufnahm, wurde 1897 in Dublin gegründet. Auch die Kinderhospizbewegung hat auf den Britischen Inseln ihren Ursprung: Das 1982 in Oxford gegründete Helen House war weltweit die erste nicht-klinische Einrichtung, die Kinder bis zum Tod pflegte. 1990 gründeten dann betroffene Eltern den Deutschen Kinderhospizverein in Olpe, das Haus Balthasar mit acht Familienplätzen wurde 1998 eingeweiht. Es folgten der Sonnenhof, das Haus Sternenbrücke (Hamburg), Löwenherz (Syke) und Regenbogenland (Düsseldorf), die stationäre Plätze anbieten, darüber hinaus gibt es einige ambulante Hospizangebote. Geplant sind Einrichtungen in Bad Grönenbach, Allgäu und Nordhausen, Thüringen, (beide 2006). Gegen das geplante Hospiz im Allgäu haben Anwohner Protest erhoben.

Ansprechpartner:


Bundesverband Kinderhospiz e.V.,


Bahnhofstr. 7, 57462 Olpe,


Tel. 02761/969 555, Tel. 0170/ 934/ 9387


info@bundesverband-kinderhospiz.de


Kontakt Sonnenhof:


Björn-Schulz-Stiftung


Wilhelm-Hauff-Straße 38, 13156 Berlin,


Tel 030/398 998 50, Fax 030/398 998 99,


www.bjoern-schulz-stiftung.de


e-mail: info@ bjoern-schulz-stiftung.de


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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