Eine hochaufgerichtete Frauengestalt, den Arm schützend um ein kleines Kind gelegt, schräg dazu drei schwarze Balken. Hinter dem Denkmal flammt farbenprächtig der Herbstwald auf. Vor fast 70 Jahren brannte hier nicht der Wald, sondern ein ganzes Dorf. Am 19. Juni 1944 sperrte die deutsche Wehrmacht alle Bewohner von Dalwa in ein Haus und zündete den zwölf Höfe zählenden Ort an: 44 Menschen kamen ums Leben, darunter 29 Kinder. Einziger Überlebender war der 13-jährige Nikolai Girilowitsch, der später diesen Gedenkort initiierte. „Der Feind hat uns verbrannt“, steht auf einem Stein am Eingang des ehemaligen Dorfes, von dem nur noch symbolische Fundamente übrig sind. „Entschuldigen Sie, gute Leute, uns bitte dafür, dass wir Sie nicht als Gäste empfangen.“
Dalwa liegt 77 Kilometer nordöstlich von Minsk, mitten im Wald. Es war die letzte der 9.200 weißrussischen Gemeinden, die von den Deutschen niedergebrannt wurden. Heute erinnert die berühmte Gedenkstätte Chatyn mit ihrem weltweit einzigen Dörfergrab an die Vernichtungsaktionen, der 1,4 Millionen Menschen zum Opfer fielen; insgesamt verlor Belarus ein Drittel seiner Bevölkerung und war damit eines der vom Zweiten Weltkrieg am meisten betroffenen Länder.
Girilowitsch, so erzählt seine Witwe Rimma Igorjewna, sei ein tatkräftiger Mann gewesen, der sich nicht ins Bockshorn jagen ließ. „Er musste sogar nachweisen, dass Holz für das Denkmal nicht für den privaten Hausbau gebraucht wurde.“ Doch habe er durchgesetzt, dass sich staatliche Stellen an der Finanzierung beteiligten und man den Erinnerungsort mit dem schönen kleinen Museum über eine fünf Kilometer lange Straße erreichen kann. Heute kümmern sich die benachbarte Sowchose und eine Schule um die „Brücke der Freundschaft“. Gelegentlich helfen deutsche Freiwillige.
Im Schatten der Sowjetarmee
In der offiziellen weißrussischen Erinnerungskultur rangiert das tragische Schicksal der verbrannten Dörfer weit hinten. In den vergangenen Jahren konnten seitens der Friedensstiftung und des Nationalarchivs Belarus zumindest 300 Überlebende dieser Massaker ausfindig gemacht werden. Noch weiter im Schatten der ruhmreichen Helden der Sowjetarmee und der Partisanen stehen die von den Deutschen verschleppten Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, die nach ihrer Rückkehr als „Kollaborateure“ bezichtigt wurden.
Die heute noch Lebenden waren damals Kinder und Jugendliche: „Wie ein Blatt vom Baum, das vom Sturm irgendwohin verweht wurde“, umschreibt Larissa Witaljewna Sinkewitsch ihr Lebensgefühl. Sie wurde 1943 in das lettische Lager Salaspils deportiert, wo die Kinder als Blutspender für deutsche Soldaten herhalten mussten. „Unser Dorf an der lettischen Grenze wurde niedergebrannt. Die Kinder den Müttern entrissen. Die Schreie der Mütter und Kinder. Die Schüsse. Das Bellen der Hunde.“ Das vergisst die 75-Jährige ihr Leben lang nicht.
Im KZ Stalag 342 in Molodetschno nordwestlich von Minsk kamen zwischen 1941 und 1944 über 33.000 Menschen ums Leben. Schüler und Lehrer der Mittelschule 5 sind seit 1987 auf Spurensuche nach deren Angehörigen und organisieren Begegnungen mit Überlebenden wie Larissa Sinkewitsch. Das Vorhaben „Namenlosen Helden geben wir ihren Namen zurück“ ist eines von gut 600 humanitären Förderprojekten, die von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) in Belarus, aber auch anderswo in Osteuropa finanziert werden. Adressaten des Schwerpunkts „Treffpunkt Dialog“ sind ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Häftlinge und andere Opfer der Besatzungszeit. Sie aus der Isolation zu holen, mit jungen Menschen in Kontakt zu bringen, ist eines der Anliegen.
„Das ist wie Detektiv“, erzählt der 16-jährige Sascha, der während unserer Fahrt zum Stalag 342 im Bus neben mir sitzt. Er war schon einmal als Austauschschüler in Göttingen, doch geht ihm Deutsch noch nicht so flüssig von der Zunge.
Verdrängt und vergessen
Von Minsk zieht sich eine schnurgerade, durch den Wald geschlagene Straße nordöstlich nach Borissow. Wald, so weit das Auge reicht. Partisanenwälder. Häufig waren Partisanenaktionen, an denen auch Juden beteiligt waren, Anlass für deutsche Strafaktionen gegen die Zivilbevölkerung.
Vor dem Veteranenhaus in Borissow erwartet uns Eduard Petrowitsch Gedroiz, Vorsitzender der Kreisgruppe des Vereins der ehemaligen minderjährigen Opfer des Faschismus. Strahlend und etwas aufgeregt schüttelt der kleine quirlige Mann allen die Hand und führt uns ins Kellergeschoss des Gebäudes. Wir drängen uns rund um den gedeckten Tisch. An den Wänden überbordend Fotografien und Kunsthandwerk. 546 Betroffene zähle der Verein heute noch, doch es würden weniger, sagt Gedroiz. Jeden Tag treffe man sich hier in Zirkeln, zum Handarbeiten oder zu Brettspielen mit den Kindern. Das Wichtigste aber seien die Erinnerungsgruppen, denn bislang hätten Erlebnisse dieser Menschen in der belarussischen Gesellschaft keine Rolle gespielt. Jetzt, da die Zeit knapp wird, drängt das an die Oberfläche, will ausgetauscht werden.
Als wir gerade den ersten Tee eingießen, taucht eine Dame von der Kreisverwaltung auf und drängt resolut zum Aufbruch. Sie komplimentiert unseren Tross durch den Regen in eine Bibliothek, wo ein größerer „repräsentativerer“ Raum bereitsteht, in dem bereits Vereinsmitglieder und Kinder warten. Gedroiz und seine Mitstreiterinnen sind irritiert. Alla Georgijewna Lenkina, in der Kreisabteilung für Ideologie, Kultur und Jugend zuständig, hat das Kommando übernommen und wird uns bis zum Mittag nicht mehr von der Seite weichen.
In der munteren Runde lerne ich die 71-jährige Sofja Andrejewna Salkind kennen. Seit 2002 ist sie in der Gruppe. Nach dem frühen Tod ihres Mannes und eigener Pensionierung wollte sie soziale Kontakte erhalten. Salkind wuchs bei ihrer Großmutter in Borissow auf und wusste nur, im Januar 1945 in Deutschland geboren zu sein. „Meine Mutter wollte mich nicht haben, ich war eine Schande“.
Schulkameraden nannten sie Goebbels
So ließ sie das Kleinkind bei der unter ärmlichen Verhältnissen lebenden Großmutter und deren fünf Kindern zurück, ging nach Russland und heiratete dort. „In der Schule saß dann ein Junge neben mir, der mich ‚Goebbels‘ nannte“. Ihre Babuschka, „eine weise Frau“, sah sich veranlasst, auf die andere Seite der Stadt zu ziehen.
Alle Versuche, Kontakt mit der Mutter in Russland aufzunehmen, scheiterten. Als sie dort auftauchte, gab diese ihr Kind als jüngere Schwester ihrer Mutter aus. „Erst kurz vor dem Tod meiner Großmutter erfuhr ich, dass meine Tante wie meine Mutter auch Anfang 45 ein Kind geboren hatte und es in einer Kirche zurücklassen musste. Da verstand ich, warum sie mich, wenn sie uns besuchte, in den Arm nahm und weinte.“ Erst 1997 erfuhr Sofja Salkind, dass die Mutter einst in Breslau als Zwangsarbeiterin gearbeitet und sie dort geboren hatte. Das Dokument des KGB, um das sie sich bemühte, um eine Entschädigung aus dem Zwangsarbeiterfonds zu erhalten, ist das einzige Dokument ihrer Herkunft.
Warum sie denn einen deutschen Namen trage?, frage ich. Ihr Mann sei ein weißrussischer Jude gewesen, sagt Salkind, 14 Jahre älter als sie und Arzt bei der Roten Armee. Seine Mutter sei als traditionelle Jüdin total gegen die Heirat mit einer Frau gewesen, in deren Adern „deutsches Blut floss“. Dabei weiß Salkind bis heute nicht, wer ihr Vater ist. „Obwohl es mein größter Wunsch wäre, das zu erfahren“, gesteht sie, „aber ich habe keine Ahnung, was ich dafür anstellen muss.“ Die 2.500 Euro Entschädigung halfen ihr immerhin, die beiden Töchter durchzubringen. „Eine ist in Frankfurt am Main“, erzählt sie stolz. Sie selbst wolle noch ein bisschen leben und hinfahren, um die zweite Enkelin zu begrüßen: „Heute bin ich ja keine Schande mehr“. Inzwischen zahlt ihr der Staat gar eine Kur.
Ordnung des Gedenkens
Umgerechnet 200 Dollar erhalte sie an Rente, erklärt Sinaida Petrowna Lewanez, eine andere Überlebende, die uns zur Gedenkstätte Chatyn begleitet. Das ist auch für weißrussische Verhältnisse wenig, zumal angesichts der seit Jahren galoppierenden Inflation. Der Preis, den Präsident Lukaschenko für die Ruhigstellung der Bevölkerung zahlt. Schon am Flughafen lag eine Ahnung der frühen zwanziger Jahre in der Luft, als uns Geldscheine mit verwirrend vielen Nullen ausgehändigt wurden. Ohne soziales Netzwerk wären die meisten Weißrussen nicht überlebensfähig.
Doch gerade die Überlebenden müssen häufig mit prekären Verhältnissen fertig werden. Das Gesetz, das Veteranen bislang begünstigte, wurde 2007 geändert und schließt nun ehemalige KZ-Häftlinge und minderjährige Gefangene vom Zugang zu kostenlosen Medikamenten aus. Die 1999 eingerichteten „Territorialen Zentren zur sozialen Versorgung von älteren Menschen und Invaliden“ haben in Belarus praktisch das Monopol. Die Projekte-Pflänzchen, die mithilfe der EVZ-Förderung gedeihen, so der Vorstandsvorsitzende Martin Salm, zielen deshalb auch auf sozialen Wandel von unten in einem Land, in dem NGOs unter schwierigen Bedingungen arbeiten. „Allerdings wollen wir den Staat auch nicht von seinen Aufgaben entbinden.“ Janina Ladyschewa, die noch bis vor Kurzem beratend im Ministerium für Arbeit und Soziales tätig war und zur Jury der belarussischen EVZ-Projekte gehört, glaubt dennoch, dass sich die Einstellung der staatlichen Stellen zu den Projekten allmählich ändert. Nicht zuletzt, weil der Versorgungsbedarf der alten Menschen steige. So frage der Minister bereits nach „Drittmitteln“.
Wieder in Minsk: Prachtboulevards und an Hollywood erinnernde Kulissenbauten. Der sprichwörtliche blaue Himmel über der nach dem Krieg wieder aufgebauten „Heldenstadt“ versteckt sich meist über den Wolken, so wie die heruntergekommenen Höfe hinter den Zuckerbäckerfassaden. Der Obelisk auf dem Siegesplatz und die allgegenwärtigen Partisanendenkmäler lassen immer noch keinen Zweifel an der Ordnung des Gedenkens. In der Saslavskaja Straße 35 erinnert nur ein kleines Monument an das drittgrößte europäische Getto und eine Figurengruppe vor der „Jama“ (Grube) an die Gefangenen, die dort erschossen wurden. Der Steinmetz, der den Gedenkstein in den fünfziger Jahren bearbeitete, wurde zu drei Jahren Haft verurteilt.
Frida Wulfowna Reismann überlebte, weil Dorfbewohner das siebenjährige Kind in einem Karren aus dem Getto geschmuggelt haben. „Später“, erinnert sie sich, „durfte das Wort Getto gar nicht erwähnt werden. Wenn ich Überlebende traf, reagierten sie hysterisch. Hätte der Staat uns früher unterstützt, wären heute noch mehr ehemalige Häftlinge am Leben.“
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