Eine Branche unter Kartellverdacht

Gesundheit Für die Krankenkassen soll viel stärker als bisher das Wettbewerbsrecht gelten. Die SPD zeigt sich alarmiert und fürchtet um die gesamte Versorgung

Zur „Chefsache“ soll nach Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Gesundheitspolitik werden. „Endlich!“ Warum ausgerechnet ein ehemaliger Außenminister zum Abschluss des alljährlichen Hauptstadtkongresses Gesundheit diesen Pausenfüller liefern musste, ist das Geheimnis der Veranstalter. Recht hat Steinmeier aber wohl mit seiner Vorhersage, dass der Gesundheitssektor mehr und mehr von Europa her bestimmt wird – und von der Wirtschaftspolitik.

So debattierte der Deutsche Bundestag vergangene Woche die achte Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen aus dem Hause von Wirtschaftsminister Philipp Rösler, die weitgehende – und bisher wenig beachtete – Folgen für die Krankenversicherung haben könnte. In der Gesundheitspolitik sei dies „das am meisten unterschätzte Gesetz dieser Legislaturperiode“, meint SPD-Experte Karl Lauterbach. Und seine Parteikollegin Bärbel Bas warnt sogar: „Langfristig steht die flächendeckende medizinische Versorgung in Frage.“

Nur der Wettbewerb zählt

Bislang gilt das Wettbewerbsrecht für Krankenkassen nur sehr eingeschränkt – etwa wenn sie fusionieren oder Verträge mit Ärzten, Krankenhäusern oder anderen Leistungserbringern abschließen. Die Gesetzesänderung soll die Zuständigkeit des Kartellamtes nun erheblich ausweiten: Auch Kooperationen zwischen Kassen, zum Beispiel bei der Brustkrebsvorsorge oder anderen Präventionsprogrammen, sollen darunterfallen, ebenso die Festbeträge für Arzneimittel, mit denen die Kassen derzeit viel Geld sparen und gegen die einzelne Pharmakonzerne künftig klagen könnten.

Wittert das Kartellamt bei solcher Zusammenarbeit Wettbewerbsverzerrungen, könnte es künftig intervenieren. Preisgünstige Kooperationen könnten so ausgehebelt werden. Außerdem schafft die Verdopplung der Aufsicht – bislang ist das Bundesversicherungsamt für die Kassen zuständig – Rechtsunsicherheit. Betroffen könnte auch der Gemeinsame Bundesausschuss sein, der nach medizinischen und sozialpolitischen Kriterien darüber entscheidet, welche Arzneimittel oder Therapien von den Kassen bezahlt werden. Hätte das Kartellamt künftig das Sagen, wäre das Augenmerk nur noch auf Wettbewerbsnachteile von Marktanbietern gerichtet.

Der Jurist Ingwer Epsen von der Universität Frankfurt sieht noch eine weitere Gefahr. Werde das Wettbewerbsrecht insgesamt auf die Krankenkassen ausgeweitet, ziehe das europarechtliche Ansprüche nach sich, denn Kartellverfahren werden zunehmend auf EU-Ebene geführt. In der Folge könnten die gesetzlichen Krankenkassen immer stärker unter Privatisierungsdruck geraten, so dass sich ihr Geschäftsgebaren dem der Privatkassen angleicht. Das ist auch der Hintergrund von Bas‘ Warnung, dass die flächendeckende Versorgung in Gefahr sei.

Den schizophrenen Status der Krankenkassen allerdings verantworten gerade die Sozialdemokraten, die im Rahmen mehrerer Gesundheitsreformen darauf insistierten, den Wettbewerb zu forcieren. Mittlerweile sind viele kleine Kassen verschwunden, und der Ausscheidungswettbewerb ist bei den Großplayern angekommen. Diese agieren in mancher Hinsicht bereits wie Unternehmen. Dennoch ist der Versorgungsauftrag der Kassen eben nicht vergleichbar mit dem Geschäft einer Schuh- oder Autofabrik. Das wird auch auf EU-Ebene – zumindest derzeit noch – anerkannt.

Geht die Entwicklung allerdings in die von der SPD befürchtete Richtung, steht auch die Selbstverwaltung der Sozialkassen zur Disposition. Die aus Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber zusammengesetzten und demokratisch legitimierten Gremien agieren staatsfern und gründen auf dem Prinzip, dass sich beide Partner die Beiträge teilen. Dieses ist in der Krankenversicherung bereits durch das Einfrieren des Arbeitsgeberbeitrags und den staatlich festgesetzten Beitragssatz unterhöhlt, und die Selbstverwaltung verliert, wie die schwache Beteiligung an den Sozialwahlen erkennen lässt, gesamtgesellschaftlich an Akzeptanz. Werde dieses deutsche „Exotenmodell“, so nennt es Franz Knieps, der ehemalige Chefberater von Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), nun von Seiten des Kartellrechts und der EU in die Zange genommen, drohe der Zerfall des gesamten Systems und damit einer wesentlichen Grundlage des deutschen Sozialstaates.

Mangelnde mentale Mehrheit

Überraschenderweise scheinen die Führungsgremien der Selbstverwaltung selbst nicht so besorgt. Bei einem Seminar des Spitzenverbandes der Krankenkassen war kürzlich zwar viel von den anstehenden Honorarverhandlungen mit den Ärzten die Rede, vom geplanten Patientenrechtsgesetz und der Pflegereform, die der Verband als völlig unzureichend kritisiert – von einer Gefährdung der eigenen Existenz war aber kein Wort zu hören. Vorstandsmitglied Johann-Magnus von Stackelberg meinte sogar, die Politik überlasse „heiße Eisen“ wie die Verhandlungen über den jährlichen Honoraranstieg – bei denen die Kassenärzte zum Zorn des Spitzenverbands dieses Jahr 3,5 Milliarden Euro mehr verlangen – ganz gern der Selbstverwaltung.

Also alles nur sozialdemokratisch aufgewirbelter Sand? Die SPD verfügt in der Selbstverwaltung der Sozialkassen immerhin über eine solide Machtposition mit gewachsenen personellen Verflechtungen. Doch die Sozialdemokraten sind mit ihren Befürchtungen nicht alleine. Auch der stellvertretende CSU-Vorsitzende Johannes Singhammer warnte in einem Brief an Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) nachdrücklich, dass die Ausweitung des Wettbewerbsrechts auf die Krankenkassen „mehr Probleme schafft als es löst“. Der Bundesrat wiederum sieht „Wertungswidersprüche und neue Bürokratie“.

Pikant an der Auseinandersetzung um Röslers Gesetz ist, dass es überhaupt erst in allerletzter Minute auf die Krankenkassen ausgeweitet wurde – in einer „Nacht- und Nebelaktion“ von den beiden FDP-geführten Ministerien Wirtschaft (Rösler) und Gesundheit (Bahr), wie nicht nur Gesundheitsfachfrau Birgit Bender von den Grünen vermutet. Die Novelle sei ein entscheidender Schritt, „die Krankenkassen unter das Kuratel des Wirtschaftsrechts zu stellen“, erklärt Knieps. Damit, folgert SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach, schaffe sich das Gesundheitsministerium perspektivisch selbst ab. Eine Chance, das gesundheitspolitische Spielfeld im Rahmen der Bürgerversicherung mehr unter staatliche Kontrolle zu bringen, sieht er indessen nicht: Dafür gebe es in Deutschland mental keine Mehrheit.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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