Es ist eine Lebensentscheidung: „Du bist da, wo du immer hinwolltest, das ist gut, das sollst du nicht aufgeben, bestimmt nicht. Aber es ist eine Wahnsinnschance für mich, verstehst du? Von 300 Bewerbern haben sie acht genommen, nur acht!“ Hannah und Jakob leben in der österreichischen Provinz, er Mediziner auf Erfolgskurs und sie? Ja, was? Eine ambitionierte Geisteswissenschaftlerin an der 30er-Grenze, Generation Praktikum, mit der Chance, in Berlin ein Volontariat zu ergattern.
Die Traurige Freiheit, die Hannah in Berlin erwartet und die Friederike Gösweiner in ihrem gleichnamigen Roman beschreibt, ist ein Dutzendschicksal. Natürlich wird es nichts mit dem Aufstieg in den journalistischen Olymp, vielmehr stolpert die Heldin abwärts ins Prekariat. Der damit verbundene Schmerz an Seele und Körper packt sie singulär, als Teil eines Kollektivschicksals will sie sich nicht verstanden wissen. Irgendwann wird sie von ihren Eltern aufgefangen. Die haben sie schon fast 30 Jahre lang finanziert, sie können es sich leisten.
Verlängerte Nabelschnur
Geschichten wie diese gibt es zuhauf in der zeitgenössischen Literatur. Sie thematisieren die gescheiterten Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste der jüngeren Generation und verkehren damit den bürgerlichen Entwicklungsroman in sein Gegenteil. Im Romandebüt Die Glücklichen von Kristine Bilkau erlebt ein Paar aus der bio- und parkettverwöhnten Berliner Kollwitz-Platz-Gemeinde den Drift nach unten, Doris Knecht begleitet in Wald eine bankrotte Modedesignerin ins selbstgewählte alpine Überlebenstraining.
Die Erzählungen muten an, als ob die Berliner Ringbahn plötzlich nur noch in eine Richtung verkehren würde: Statt im schmuddeligen Wedding Fahrt aufzunehmen, um in den wohlhabenderen Berliner Süden oder in den Prenzlauer Berg mit seinen hippen Kiezen zu rauschen, ist sie nur noch in die entgegengesetzte Richtung etwa in die weniger gentrifizierten Areale Neuköllns unterwegs.
Dieser Befund ist durchaus nicht nur eine literarische Fiktion. Auch im 21. Jahrhundert kann es ein Arbeiterkind noch zum Manager oder zum Professor bringen, doch die Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten ist geringer geworden. Die Aufstiegschancen von Kindern, das ist spätestens seit Pisa offensichtlich, hängen wieder zunehmend von der sozialen Herkunft der Eltern ab und die vererbt sich.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat mit einer 1983 aufgenommenen Langzeituntersuchung dafür belastbare sozio-ökonomische Daten vorgelegt. Sie zeigt, dass ein Anfang der 50er Jahre geborener Junge noch verhältnismäßig gute Chancen hatte, nicht wie sein Großvater oder Vater am Fließband oder an der Werkbank zu enden, sondern aufzusteigen. Von den nach 1960 Geborenen legten dann gerade noch 20 Prozent einen solchen Bildungsaufstieg hin.
„Unsere Kinder sollen es einmal besser haben“, lautete die Losung, die in der Nachkriegszeit Arbeiter und kleine Angestellte die eigenen Bedürfnisse aufschieben ließ, zugunsten der Zukunft ihrer Kinder. Was in der DDR als selbstverständlich galt, war in der Bundesrepublik ein Novum. Als mein Cousin Ende der 50er aufs Gymnasium ging, nobilitierte er damit die ganze Familie. Er hatte gute Aussichten, ein, zwei Etagen über seine Eltern hinauszuwachsen.
Mädchen wie ich mussten nachdrücklicher strampeln, auch weil das weibliche Berufsspektrum damals noch begrenzt war. Als sich für angehende Lehrerinnen dann erst einmal die Schulpforten schlossen, als der Mittelbau an den Universitäten verschwand und ein vorher nicht dagewesener Lehrstellenmangel selbst eine schlichte Ausbildung verbaute, ging die Ahnung durchs Land, dass der Bewegungsmelder der „intergenerationellen Mobilität“, wie Soziologen es nennen, nicht mehr automatisch nach oben wies.
Inzwischen sind wir, die sogenannten Babyboomer, zum Schreckbild der Jüngeren geworden. Seit über einem Jahrzehnt wird die „demografische Katastrophe“ in einer „vergreisten Republik“ als mediales Zerrbild gezeichnet und ein Land beschworen, in dem die Alten den Jungen die Haare vom Kopf fressen. Die „Woopies“ (Well-Off Older People), die agilen jungen Alten, so die Erzählung, hängen an Sandstränden ab oder brausen mit ihren Porsches durch die Gegend, während die schrumpfende Gruppe der Erwerbstätigen deren angeblich üppige Renten finanziert und am Ende, wenn sie selbst alt wird, am kahlen Kliff hocken und darben wird.
Was hier mit dem Kampfbegriff „Generationengerechtigkeit“ mobilisiert wird, ist in Wahrheit ein sozialer Konflikt. Unter den „Sandwiches“ – denjenigen, die gleichzeitig ihre Kinder und ihre Eltern zu versorgen haben – geht es beim Kaffee oder in Kneipenrunden immer wieder um die Versorgung der gebrechlichen Eltern und die Frage, wie man neben Job und eigener Familie alles organisiert bekommt. Gelegentlich kommt es dann zu peinlichen Pausen, etwa weil alle wissen, dass die Mutter von Anna über reichlich Geld verfügt, um sich eine teure Pflegerin zu leisten, während Sonja mit der Pflegekasse kämpft und drei Mal in der Woche 100 Kilometer zu ihrer Mutter fährt. Und eines Tages wird es Anna sein, die erbt – nicht Sonja.
Für eine eher links gestimmte Generation, die einst mit egalitärem Anspruch angetreten ist und versucht hat, das auch lebensweltlich einzulösen, kann das zu einer Herausforderung werden und zu sozialer Entmischung führen. Die Kränkung holt insbesondere die Bildungsaufsteiger ein, die bei den Nachkommenden erleben, dass Leistung inzwischen keine Garantie mehr ist für Gratifikation – und die dann nicht nur ihre alten Eltern an der Backe haben, sondern möglicherweise auch noch ihre längst erwachsenen Kinder. Als „Generation Nabelschnur“ labelte die Zeitschrift Neon einmal diese in finanzieller Abhängigkeit verharrenden Nesthocker, diese sogenannten „Boomerang-Kids“, die – wie die Figur Hannah in Gösweiners Roman – nach einer gescheiterten Beziehung oder einer abgebrochenen Ausbildung ins Elternhaus zurückkehren. Dann wird die Familie zum Auffangbecken und Stabilisator in prekären Lebenslagen.
Darauf verwies schon der Soziologe Martin Kohli, der um die Jahrtausendwende an der FU Berlin den Forschungsschwerpunkt „Alter und Lebenslauf“ leitete. Im Vergleich zu den 60ern und 70er Jahren, als die Absetzbewegung der Kinder von ihren Eltern noch viel ausgeprägter war, rückten die Familien, so seine These, nun wieder enger zusammen. Die Familie stelle ein informelles Versicherungssystem dar, das bei Lebensrisiken in Kraft trete.
Keine Ego-Monster
Aber nicht nur, wenn es hart auf hart kommt, funktioniert das diskrete Umverteilungsprogramm. Es muss nicht das Apartment für die studierende Tochter sein. Der Führerschein, der Auslandsaufenthalt, die erste Babyausstattung oder die Hilfe des Onkels beim Hausbau: Die elterlichen Zuwendungen sind so vielfältig wie die Lebenssituationen der Kinder, und sie sind nicht nur finanzieller Natur. Der seit 1996 erhobene bundesweite Alterssurvey zeigt, dass im Jahr 2014 mehr als 44 Prozent der 40- bis 54-Jährigen ihren außerhalb des eigenen Haushalts lebenden Kindern materielle und instrumentelle Unterstützung zukommen ließen. 2008 waren es nur 36 Prozent. In umgekehrter Richtung nehmen die Hilfeleistungen allerdings ab. Wurde 1996 noch ein Drittel der über 70-Jährigen von den Kindern unterstützt, war es 2014 nur noch ein Zehntel. Das heißt nicht, dass die Jüngeren zu Ego-Monstern geworden sind, sondern dass ihre finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten nicht mehr erlauben.
Von einem „Generationenkrieg“ kann also keine Rede sein, im Gegenteil scheint sich der soziale Zusammenhalt, zumindest in den Familien, zu festigen, auch wenn die Ressourcen je nach Schicht unterschiedlich verteilt sind. Und sowohl in Romanen als auch in der sozialen Realität gilt, dass die sozial Deklassierten daran glauben, dass sie es grundsätzlich schaffen können. Das Versprechen, dass es die Kinder mal besser haben, mag seine Wirkkraft verloren haben, doch das Vertrauen ins Leistungsprinzip hält das Gros der Menschen bei der Stange, nach dem Prinzip: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Info
Traurige Freiheit Friederike Gösweiner Droschl 2016, 144 S., 18 €
Die Glücklichen Kristine Bilkau Luchterhand 2016, 304 S., 19,99 €
Wald Doris Knecht Rowohlt TB 2016, 272 S., 9,99 €
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